Vierköpfige Familie zieht in ein durch und durch digitalisiertes Heim und wird alsbald vom Geist in der Maschine tyrannisiert: Auf den ersten Blick hat die Netflix-Serie „Cassandra“ nichts Neues zu bieten. Geschichten von Smart Homes, die ein fatales Eigenleben entwickeln, gab’s zuletzt des Öfteren, unter anderem mit „Unsichtbarer Angreifer“ (2024, ZDF), ein sehenswertes Thriller-Drama mit Emily Cox als Psychotherapeutin, oder mit dem Kino-Thriller „Das Haus“ (2021), in dem ein Eigenheim eifersüchtig auf die Frau seines Besitzers wird. Urvater all’ dieser Geschichten ist der Supercomputer HAL 9000 aus Stanley Kubricks Science-Fiction-Klassiker „2001 – Odyssee im Weltraum“ (1968), aber Benjamin Gutsche hat dem Sujet dank einer in der Tat sehr originellen Kombination eine völlig neue Seite abgewonnen: HAL meets Mary Poppins.
Foto: Netflix
Zentrale Figuren der Serie sind zunächst Samira (Mina Tander) und David (Michael Klammer), die nach einem für Mutter und Tochter traumatischen Erlebnis mit Sohn Fynn und der kleinen Juno aufs Land ziehen. Ihr neues Domizil ist Anfang der Siebziger gebaut worden und stand anscheinend fünfzig Jahre leer. Damals war das Haus seiner Zeit weit voraus: Ein Computer erweist sich alsbald als unverzichtbare gute Seele des Bungalows. Cassandra, in einer humanoiden Form auch physisch mit Monitorkopf mobil, übernimmt nicht nur sämtliche Arbeiten in Heim und Garten, sondern wird zu Junos bester Freundin. Die Handlung verlagert sich in Form von Rückblenden zunehmend in die Vergangenheit, als Samira feststellt, dass Cassandra mehr als bloß ein Haufen Bits und Bytes ist. Ihrem Schöpfer (Franz Hartwig) ist einst revolutionär gelungen, wovon die Wissenschaft noch heute träumt: Er hat die Persönlichkeit seiner Frau (Lavinia Wilson) digitalisiert. Kurz darauf sind er und Sohn Peter bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Seither wartet Cassandra darauf, endlich wieder ihrer Bestimmung als Herrin des Hauses nachkommen zu können, und natürlich steht Samira diesem Ziel im Weg.
Foto: Netflix
Gutsche ist bislang vor allem als Autor aufgefallen; er war unter anderem der kreative Kopf hinter der gleichermaßen makabren wie sehenswerten TNT-Serie „Arthurs Gesetz“. Bei seiner zweiten Regiearbeit nach der ARD-Schwulen-Serie „All You Need“ (2021) durfte er deutlich mehr Geld ausgeben; Kostüm- und Szenenbild rekonstruieren mit viel Liebe zum Detail sehr moderne frühe Siebziger. Das Retro-Etikett gilt allerdings nicht nur für Kleidung, Einrichtung und Technik. Cassandra war ganz offenkundig kein Kind der sexuellen Revolution, sondern eine Frau mit sehr konservativen Ansichten: Mutti ist die Beste. Dass sich der kurz vor dem Abitur stehende Fynn (Joshua Kantara) in einen Mitschüler (Filip Schnack) verliebt, passt nicht in ihr Weltbild. Die Rückblenden zeigen, dass sie damals schon bei Muttersöhnchen Peter (Elias Grünthal) erzieherisch versagt hat. Mit großem dramaturgischem Geschick kombiniert Gutsche die beiden Zeitebenen, wobei die Ereignisse der Vergangenheit zunehmend in den Vordergrund rücken.
Auch die technische Komponente ist reizvoll. Dank der Bildschirme in jedem Raum – Big sister is watching you – ist Cassandra omnipräsent. In der Küche kann sie ihre „Hände“ durch allerlei Gerätschaften ersetzen, und weil sie keine Maschine im herkömmlichen Sinn ist, haben Isaac Asimovs vor über achtzig Jahren formulierten Robotergesetze („Ein Roboter darf kein menschliches Wesen verletzen“) für sie keine Gültigkeit. Als weiteren Knüller offenbart Gutsche gegen Ende, wie sie beizeiten dafür gesorgt hat, dass ihrem unheilvollen Treiben kein Ende gesetzt werden kann. Nicht minder raffiniert ist die Konzeption, denn im Grunde erzählt die Serie zwei Geschichten, die beide unaufhaltsam auf einen tragischen Höhepunkt zusteuern. Das gilt auch für jede der sechs Episoden, die mitunter buchstäblich mit einem Knalleffekt enden; und wer hätte gedacht, dass eine schlichte Begrüßung wie „Hallo Liebling!“ der pure Horror sein kann.
Foto: Netflix
Soundtrack: Nana Mouskouri („Guten Morgen Sonnenschein“), Marianne Rosenberg („Er gehört zu mir“), Vicky Leandros („Ich liebe das Leben“), Michael Holm („Tränen lügen nicht“), Roy Black („Du bist nicht allein“), Middle of the Road („Chirpy Chirpy, Cheep Cheep“), Milva („Ich hab’ keine Angst“)
Fürs Zeitgefühl sorgen nicht zuletzt die eingespielten Lieder. Cassandra steht auf Schlager, weshalb die Familie in der Früh’ stets mit „Guten Morgen Sonnenschein“ von Nana Mouskouri geweckt wird. Roy Black und Michael Holm erklingen ebenfalls. Aller Sorgfalt zum Trotz ist Gutsche bei der ansonsten auch inhaltlich sehr stimmigen Liedauswahl jedoch ein Fehler unterlaufen: Nachdem Cassandra die Spuren eines Amoklaufs ihres von seinen Mitschülern gemobbten Sohns beseitigt hat, trällert sie auf der Heimfahrt lauthals „Ich liebe das Leben“ von Vicky Leandros. Das Lied ist aber erst 1975 erschienen; da weilte Cassandra zumindest in stofflicher Form längst nicht mehr unter den Lebenden.