Aus Jan, dem Informatikstudenten aus Stuttgart, der „nie einen Gott hatte“, wird ein radikaler Moslem. Den ganzen ersten „Brüder“-Teil nimmt sich das Drehbuch von Kristin Derfler („Es ist nicht vorbei“, „Ellas Entscheidung“) Zeit für diese Verwandlung. Am Ende will der deutsche Konvertit in das vom Islamischen Staat (IS) besetzte Gebiet einreisen. Sein WG-Freund Tariq, obwohl ein westlich orientierter Moslem, hat sich ihm angeschlossen. Der aus Syrien stammende Arzt hofft darauf, seine in Aleppo eingeschlossene Familie retten zu können. Beide werden am IS-Kontrollpunkt getrennt. Jan zieht in den Krieg, erlebt die Grausamkeiten des IS und kehrt als vermeintlich geläuterter Dschihadist heim.
Foto: SWR / Züli Aladag
Die Gewalt des IS in Szene zu setzen, stößt an Grenzen
Das Kalifat des Islamischen Staats ist zum Zeitpunkt der Erstausstrahlung von „Brüder“ stark zusammengeschrumpft. Wie es zuging in den vom IS besetzten Gebieten, ist mittlerweile durch Zeugenaussagen gut dokumentiert. An Bildern mangelt es naturgemäß, sieht man von den eigenen Propagandafilmen des IS ab und den Bildern nach der Befreiung. Insofern füllt die in Marokko gedrehte erste Hälfte des zweiten Teils eine Art Leerstelle, erfüllt aber auch – so zynisch das klingen mag – einen gewissen Schauwert, weil man schaudernd die Vorstellung von einer Hölle auf Erden bestätigt sieht. Derartige Gewalt in Szene zu setzen, so sehr es als Demaskierung notwendig sein mag, bleibt zwiespältig. Auch weil ähnliche, schlimmere Bilder ja von Islamisten selbst als Propagandamittel eingesetzt werden. Den realen Schrecken in einem fiktionalen Programm zu inszenieren, noch dazu für einen vor 22 Uhr ausgestrahlten Film, stößt an Grenzen, die das Familien-Publikum vor dem Unsäglichsten bewahren soll. Hier zum Beispiel: Bevor ein IS-Kämpfer einer Braut die Kehle durchschneidet, weil die sich schminkte, schwenkt die Kamera weg. Mehr zu zeigen, ist nicht nötig.
„Insgesamt haben sich im Laufe meiner Recherchen drei Themenschwerpunkte herausgebildet: Erstens, die salafistische Szene in Deutschland und die Radikalisierungsprozesse deutscher Jihadisten. Zweitens, der Bürgerkrieg in Syrien und die Terrormiliz ‚Islamischer Staat‘ (IS). Und drittens die Arbeit und Struktur des Verfassungsschutzes.“ (Drehbuchautorin Kristin Derfler)
Überzeugende Bilder aus der marokkanischen Wüste
Das militärische Training im Staub der Wüste, die Kämpfe am Rande einer schon zerstörten Stadt, auch das Leben im IS-Posten und das System der Unterdrückung, all das ist vor der marokkanischen Kulisse durchaus eindrucksvoll zum Leben erweckt worden. Schockierend sind dabei auch nicht nur Szenen direkter Gewalt. Als Belohnung für einen erfolgreichen Kampfeinsatz wird Jan zu einer verängstigten, 17 Jahre alten Schweizerin namens Vanessa geführt. Auch das gab es ja: Junge Frauen, die den IS unterstützen wollten und ins Kalifat reisten. Später wird Vanessa mit anderen Frauen und Kindern auf einem Karren aus dem IS-Lager gefahren, Ziel unbekannt. Aladag findet einige starke Bilder für die IS-Herrschaft. Indes torpedieren die angeklebten Bärte manchmal die Überzeugungskraft der Inszenierung.
Foto: SWR / Züli Aladag
Jan ist unter der coolen Oberfläche ein zorniger junger Mann
Die lebt vor allem von der enormen Präsenz und Glaubwürdigkeit des Hauptdarstellers Edin Hasanovic sowie von der Sorgfalt, mit der die Entwicklung seiner Figur Schritt für Schritt nachvollzogen wird. Jan ist ein ziellos und unruhig wirkender Student, der kifft, an der Spielekonsole zockt, ohne rechte Leidenschaft mit einer Kommilitonin schläft und sich an der Uni langweilt. Er repariert Computer oder Smartphones, da ist er ein Könner. Ansonsten bleibt er ein Einzelgänger. Empathie beweist er, als Samia (Zainab Alsawah), die Schwester seines WG-Freundes Tariq (Erol Afsin), als Flüchtling in Stuttgart eintrifft. Ihr Schicksal rührt ihn, er rettet der Gefolterten und Vergewaltigten nach einem Selbstmordversuch das Leben und bietet sogar an, sie zu heiraten, damit sie in Deutschland bleiben kann. Unter der coolen Oberfläche wird ein empfindsamer, oft auch zorniger junger Mann sichtbar, dem es an Gemeinschaft und Orientierung fehlt. Zwischen ihm und seinem Vater (Thorsten Merten) herrscht nahezu blanker Hass. Auch mit der Mutter (Karoline Eichhorn) hat er kaum Kontakt.
Die Grundkonstellation, die jede Art von Radikalisierung befördert:
„Bei den jungen Männern sind es oft die fehlende Vaterfigur und gewisse Lebensläufe ähneln sich: Labil, frustriert, unreif, Probleme in der Familie, Drogen und Alkoholkonsum, Wut und Abscheu gegenüber einer individualistisch geprägten Welt. Jemand wie Jan Welke hätte auch bei den Linksautonomen oder dem NSU landen können. Es geht immer um Abgrenzung, Aufmerksamkeit, Gruppengefühl, vermeintlich starke Männlichkeitsbilder.“ (Kristin Derfler)
Foto: SWR / Züli Aladag
Der Verführungskraft religiöser Rituale erlegen
Gründlich widmet sich der erste Teil, wie Jan dem bosnischen Islamisten Abadin Hasanovic (Tamer Yigit) ins Netz geht. Dazu gehört auch eine ausführliche Beschäftigung mit der Argumentation und den religiösen Praktiken. Offenbar hat Regisseur Aladag viel Wert auf eine authentische Darstellung der Rituale, Gebete und Lieder gelegt, um die Verführungskraft jenseits von Hasspredigten verständlich zu machen. Jan reagiert bei der ersten Begegnung mit Abadin erst einmal abweisend („Ich bin nicht dein Bruder“). Nach einem zufälligen Wiedersehen beim Kicken schaut Jan aus Neugier auf Abadins Facebook-Seite rein und hört sich dessen Predigt in einer Moschee an. Die Skepsis ist noch da („Holocaust an den Muslimen, das ist Quatsch“), aber das Interesse Jans und auch eine gewisse Sympathie hat Abadin bereits geweckt. Der Informatikstudent beginnt sich mit dem Koran zu beschäftigen, schaut islamistische Videos im Netz und hört entsprechende Musik. Zudem wirken das Gemeinschaftsgefühl und die gegenseitige Hilfsbereitschaft attraktiv. Es beginnt die Phase der Identifizierung, Jan glaubt, endlich seinen Platz gefunden zu haben.
Teil zwei lebt von der Ungewissheit über Jans Charakter
Ein überzeugendes Drama mit wenigen Krimi-Einsprengseln, das gilt für den ersten Teil. Tariq wird vom Verfassungsschutz angesprochen, aber die V-Mann-Idee bekommt im Verlauf der Handlung kaum Gewicht. Außerdem überwacht das LKA den Verein von Abadin, was Misel Maticevic als LKA-Beamten Bauer das erste Mal auf den Plan ruft. Der zweite Teil wird deutlich tempo- und actionreicher. Auf die Zeit des Schreckens im Kalifat folgt ein packendes Schlussviertel, das von der Ungewissheit lebt, wie sich Jan verändert hat. In Syrien musste er mitansehen, wie Menschen willkürlich hingerichtet werden, wie ein Deserteur brutal getötet wird, wie Mitkämpfer aus dem Westen zerbrechen. Das macht ihm zu schaffen, aber er ist auch ein überzeugter Teil des Islamischen Staats geworden. Als das türkische Militär den IS-Posten übernimmt, wird Jan aus einem Verlies befreit. Angeblich hatte er einen gescheiterten Fluchtversuch unternommen. In Deutschland gilt er als extrem verdächtig. Wie umgehen mit IS-Rückkehrern? Der Film hat dafür keine einfachen Antworten… Jan, der Konvertit, steht klar im Zentrum des Zweiteilers, der aber im Grunde von einer irrwitzigen gegenläufigen Bewegung erzählt. Ein Deutscher reist zum Kämpfen nach Syrien, während Tariqs Familie in Aleppo nichts lieber täte, als von dort weg und nach Deutschland zu kommen. Dass Tariqs Geschichte und die seiner Familie im Film untergeordnet bleibt, muss man wohl positiv sehen: Immerhin sind hier Flüchtlinge nicht terrorverdächtig. (Text-Stand: 25.10.2017)