Stell’ dir vor, du willst morgens deine Wohnung verlassen und läufst buchstäblich gegen eine Wand: Jemand hat über Nacht deine Tür zugemauert. „Mauer“ ist in diesem Zusammenhang allerdings ein denkbar falscher Begriff, wie sich später zeigen wird, aber das kannst du jetzt noch nicht ahnen. Erst mal versuchst du’s mit roher Gewalt, doch die Wand erweist sich als unzerstörbar; dein Bohrer hinterlässt nicht mal einen Kratzer. Die Fenster sind ebenfalls undurchdringlich. Bohrversuche an sämtlichen Außenwänden führen zum gleichen Ergebnis: Du sitzt in der Falle.
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Was nach einem Szenario von Stephen King klingt und an dessen Roman „Die Arena“ erinnert – eine Kleinstadt verschwindet eines Tages unter einer luftdurchlässigen Kuppel, aus der es kein Entrinnen gibt –, entwickelt sich zunächst als Drama. Kurze Einschübe deuten den Schicksalsschlag an, dessen Folgen die Beziehung von Tim und Olivia (Matthias Schweighöfer, Ruby O. Fee) derart belastet, dass eine Trennung unvermeidlich ist. Als sie ihn nun tatsächlich verlassen will, ist es zu spät.
Das ist jedoch nur der Prolog einer Geschichte, die eine beeindruckende emotionale wie auch dramaturgische Komplexität entwickelt, denn was als Zwei-Personen-Drama beginnt, wandelt sich alsbald zum Ensemble-Thriller: Ein beherzter Durchbruch in die Wohnung nebenan führt zu der Erkenntnis, dass das Nachbarpaar Marvin und Ana (Frederick Lau, Salber Lee Williams) ebenfalls lebendig begraben ist. Eine Hoffnung bleibt allerdings noch: Das Gebäude ist weit über hundert Jahre alt, im Keller gibt es einen Zugang zu einem einstigen Luftschutzraum, von dort gelangt man in einen U-Bahn-Tunnel. Der Weg in die Freiheit führt also einige Stockwerke nach unten. Das Gemäuer ist kein Hindernis, ein Mann im Erdgeschoss allerdings schon: Polizist Yuri (Murathan Muslu) ist überzeugt, dass draußen die Apokalypse tobt, und will um jeden Preis verhindern, dass die anderen das Haus verlassen.
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Philip Koch (Buch, Regie, Produktion), der für Netflix bereits die Serie „The Tribes of Europa“ (2021) gedreht hat, bietet mit seinem Film eine gleichermaßen faszinierende wie fesselnde Mischung aus psychosozialem Experiment und klassischem Nervenkitzel. Die Spannung resultiert zwar in erster Linie aus dem „Escape“-Charakter der Handlung, aber die Mitglieder der siebenköpfigen Gruppe gehen wie immer, wenn Menschen einander auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind, alsbald auch aufeinander los. Es gibt noch einen achten Hausbewohner (Alexander Beyer), aber Vermieter Friedman ist ein eher passiver Teilnehmer, auch wenn er, wie sich schließlich zeigt, ganz erheblich zu der misslichen Lage beigetragen hat. Außerdem sorgt er für ein weiteres Rätsel: Der Mann liegt tot vor seiner Tür. Wo die Hände sein sollten, enden seine Arme in blutigen Stümpfen. In seiner Wohnung stößt Tim auf einen versteckten Raum mit Monitoren: Mit Hilfe winziger Kameras in den Rauchmeldern konnte Friedman jederzeit beobachten, was die Hausgemeinschaft so alles treibt. Die Entdeckung ist zwar empörend, wirkt ansonsten zunächst jedoch nebensächlich. Das ändert sich, als den Mitgliedern der eingeschlossenen Gesellschaft klar wird, dass ein anscheinend einem Herzversagen erlegener weiterer Mitbewohner dem Geheimnis auf der Spur war.
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In Kochs Drehbuch gibt es ohnehin keine Nebensächlichkeiten, alles fügt sich mit Ausnahme einer kleinen, aber unwesentlichen logischen Schwachstelle am Ende ähnlich fugenlos zusammen wie die Wand, deren Machart nahezu außerirdisch wirkt: Sie besteht aus unendlich vielen Bausteinen unterschiedlichster Größe, die wie beim Tetris-Puzzle perfekt zusammengefügt sind; kein Wunder, dass sich Marvin, der den anderen mit seiner Impulsivität allerlei Ungemach bereitet und am Ende mehrere Menschen auf dem Gewissen hat, zwischenzeitlich in einem Computerspiel wähnt. Die Auflösung ist allerdings ungleich gewaltiger und beschert dem Film ein fulminantes Schlussbild.
Natürlich lässt sich die Geschichte auch als „Lockdown“-Metapher interpretieren, aber in der darstellerisch intensivsten Szene stellt sich Tim endlich seiner Unfähigkeit zu trauern. Sehr bemerkenswert ist neben der guten elektronischen Musik auch die optische Gestaltung. Alexander Fischerkoesen hat mit Koch schon bei dessen mehrfach ausgezeichnetem Jugenddrama „Play“ (ARD 2019, mit Emma Bading als junge Frau, die sich in der Welt eines Fantasy-Spiels verliert) zusammengearbeitet. Trotz der räumlichen Beengtheit ist es dem erfahrenen Kameramann gelungen, jeden Anflug eines im Studio entstandenen Kammerspiels zu vermeiden.