Martina (Maria Furtwängler) ist eine gestandene Frau, angesehene Neurochirurgin und Chefin der von ihr selbst aufgebauten Klinikstation. Für ein paar entspannte Sommer-Tage im eigenen Ferienhaus will sie dem beruflichen Stress mit ihrem Mann Andi (Pasquale Aleardi) und der heranwachsenden Tochter Lina (Luna Winter) entfliehen. Die Familie ihrer besten Freundin Jutta (Margarita Broich) ist auch dabei. Die Stimmung ist angespannt: Vater Torsten (Uwe Preuss) stichelt gegen den gerade nach zwei Jahren USA-Aufenthalt heimgekehrten Sohn Mischa (Damian Hardung), weil der immer noch keinen Plan für die eigene Zukunft hat. Doch Mischa hat sich zu einem attraktiven jungen Mann entwickelt: Seine Einführung als badender Adonis erinnert entfernt an François Ozons Kinofilm „Swimming Pool“, wie sich überhaupt die Kamera von Roland Stuprich gerne im Element Wasser tummelt. Der Pool am Ferienhaus ist der Schauplatz der Annäherung zwischen Martina und Mischa, die mit einer Vergewaltigung endet. Danach ist der gewohnte Gang ins Schwimmbad für Martina mit der Erinnerung an dieses Erlebnis verbunden. Und wenn sie am Ende wieder entspannt in einen Bade-See gleitet, ist dies eine optimistische Metapher zum Ausklang des Films: Martina, so scheint es, hat sich ihr altes Leben zurückgeholt.
Von der schwierigen Wahrheitssuche bei einer Vergewaltigung erzählten zuletzt Matti Geschonneck und Ferdinand von Schirach in Form eines Gerichtsdramas („Sie sagt. Er sagt.“). Auch der Film „Nichts was uns passiert“ von Julia C. Kaiser, der in diesem Jahr mit einem Grimme-Preis ausgezeichnet wurde, wählte mittels der von einer Podcast-Autorin geführten Interviews einen multiperspektivischen Ansatz – ohne die Sensibilität gegenüber der von einem Freund vergewaltigten Studentin vermissen zu lassen. Wie in diesen beiden Filmen handelt auch das „Bis zur Wahrheit“-Drehbuch von Lena Fakler von einem Fall, in dem der Täter nicht als unbekannter Gewalttäter im Dunkel der Nacht auftaucht, sondern aus dem persönlichen Umfeld des Opfers stammt – wie häufig in der Wirklichkeit. Das wohlhabende, gutbürgerliche Milieu verweist außerdem darauf, dass es in allen Schichten zu sexualisierter Gewalt gegenüber Frauen kommt. Martina flirtet mit Mischa, erwidert anfangs im Pool auch seine Küsse. Dass sie jedoch anschließend mehrfach „Nein“ sagt und Mischa mit Gewalt seine Absichten durchsetzt, daran lässt die Inszenierung von Saralisa Volm („Schweigend steht der Wald“) nicht den Hauch eines Zweifels – ohne dass dem Voyeurismus Vorschub geleistet würde.
„In unserer Körperhaltung und unseren Bewegungsabläufen zeigt sich oft mehr als im bloßen Text. Im Fall von Martina ging es weniger um Sinnlichkeit als darum, ihr gesundes Verhältnis zu ihrem Körper und ihrer Sexualität zu zeigen. Martina treibt Sport. Martina masturbiert. Martina hatte schon mal eine Affäre. Wäre sie ein Mann, wäre es vollkommen normal, das zu zeigen. Bei Frauen tun sich viele noch schwer damit, deren Unabhängigkeit und Körperlichkeit zu akzeptieren.“ (Saralisa Volm, Regisseurin)
„Martina ist dem Täter überlegen, was Alter, Lebenserfahrung, Souveränität und Status angeht. Sie hat getrunken und gefeiert. Sie hat geflirtet und gekifft. Sie lebt eine selbstbestimmte Sexualität. Und trotzdem ist das, was Mischa tut, falsch. Gleichzeitig ist Mischa kein Monster, das nichts mit uns zu tun hat. Mischa, der Täter, ist Produkt dieser Gesellschaft, in der junge Männer beigebracht bekommen, dass ein Nein einer weiblich gelesenen Person eigentlich ein Ja ist. Und dass man Zuneigung als Junge auch durch Gewalt kundtun kann – denn was sich liebt, das neckt sich.“ (Lena Fakler, Drehbuchautorin)
Die Perspektive der vergewaltigten Ärztin steht im Mittelpunkt, wobei der Fall erkennbar auf die üblichen Klischees und Vorwürfe anspielt, mit denen weibliche Vergewaltigungsopfer konfrontiert werden und die auf christlich-patriarchalen Vorstellungen beruhen: die Frau als Lügnerin, als Verführerin, als die eigentlich Schuldige. Auch Martina glaubt man nicht, denn sie hat ja geflirtet mit dem Jungspund, Party gefeiert, gekifft. Ob sie sich denn überhaupt gewehrt hätte, wird sie gefragt. Außerdem erinnert sich nicht nur ihr Mann Andi daran, dass sie vor Jahren eine Affäre hatte. „Schlampe“ beschimpft sie Torsten. „Das ist halt nicht das erste Mal“, sagt auch Freundin Jutta, nachdem sie und ihr Mann vom Vorwurf gegen ihren Sohn erfahren haben. Die Mutter stellt Mischa zur Rede und will seinen Ausflüchten gerne glauben. Andi spürt, wie sich seine Frau verändert, glaubt jedoch erst mal nur an eine weitere Affäre. Eindringlich schildern Fakler und Volm die Auswirkungen des Verbrechens, das Martina anfangs am liebsten verdrängen möchte, wie sie selbst sagt. Maria Furtwängler überzeugt vollauf in der Rolle einer starken, selbstbestimmten, nun aber verunsicherten und beschämten Frau, die die eigene Traumatisierung nicht wahrhaben will und zunehmend die Kontrolle zu verlieren droht. Dass ihr Handeln widersprüchlich ist, spiegelt nur die Verunsicherung glaubwürdig wider.
Martina dokumentiert zwar direkt nach der Tat ihre blauen Flecken mit dem Smartphone, geht aber nicht zu einem Arzt oder einer Ärztin, um Spuren zu sichern, sondern lässt sich beim Gesundheitsamt lediglich auf übertragbare Geschlechtskrankheiten untersuchen. Und erst nachdem Torsten mit einer Verleumdungsklage droht, beschließt sie auf Vorschlag ihres Mannes, eine Anwältin aufzusuchen. Dabei spielt die Juristin Weber (Sarah Masuch) den Advocatus Diaboli und simuliert eine aggressive Befragung Martinas durch die Anwälte der Gegenseite. Für Weber steht fest: „Die Sache ist aussichtslos.“ Martina schien selbst gar nicht erst erwogen zu haben, Mischa anzuzeigen. Damit verweist der Film auf die bedrückende Realität, in der es viele Frauen nicht wagen, Anzeige zu erstatten. Dass Frauen auch wegen der noch immer vorherrschenden Vorstellungen von Geschlechterrollen nicht ausreichend geschützt und unterstützt werden, erzählt der Film überzeugend. Und eine filmische Fiktion, selbst wenn sie sich kritisch auf die Realität bezieht, muss keine Botschaften im Ratgeber-Modus liefern. Aber dass der etwas problematische Eindruck entsteht, es bringe ohnehin nichts, sich an Polizei und Justiz zu wenden, ist mindestens diskussionswürdig.