Seit dem 1. Mai 1987, als Berlin Kreuzberg ein paar Stunden den feiernden und randalierenden Autonomen überlassen wurde, hat der Tag der Arbeit in Berlin ein anderes Gesicht. Vorbei die ritualisierten Mai-Kundgebungen der Gewerkschaften, zu denen der Kampftag der Arbeiterbewegung geworden war. Doch mittlerweile ist auch der gefeierte Chaos-Tag im Berliner Szenebezirk zum Krawall-Ritual verkommen, es ist ein Tag, an dem man mal so richtig Dampf ablassen kann. „Eigentlich versucht man jedes Jahr, so was wie damals wieder hinzukriegen, einen einzigen verdammten Tag, an dem du dir alles nimmst, weil alles dir gehört“, heißt es denn auch zu Beginn des Episodendramas „Berlin – 1. Mai“.
Der Titel ist trügerisch. Es geht den Filmemachern nicht darum, was aus diesem Tag geworden ist, sondern es geht um die Geschichten, die in dieser Kino-Koproduktion erzählt werden. Der 1. Mai ist Kulisse, Projektionsfläche, auf der die Einzelschicksale ihre besondere gesellschaftliche Tragik entfalten. Zwei jugendliche Krawallmacher aus der Provinz, ein 11-jähriger Türke und ein Polizist geraten mit ihren persönlichen Problemen hinein in das explosive Gemisch einer Stadt. „Action“ erleben, cool sein und dazu gehören wollen oder einfach nur seinen Job machen – das sind die unterschiedlichen Antriebe der vier Hauptfiguren. Das Kreuzberger Chaos als Hintergrundrauschen ihrer Lebenskrisen.
Foto: HR Kreuzberger Chaos als Hintergrundrauschen diverser Lebenskrisen? Peter Kurth als Alt-87er, der vom Barrikadenbauen träumt.
„Berlin – 1. Mai“ (Trailer) ist ein Gemeinschaftsprojekt junger Filmemacher: drei Regie-Teams, drei Geschichten, ein Ort, ein Tag, gedreht an Originalschauplätzen am 1. Mai 2006, bis in die Morgenstunden des nächsten Tages. Gemessen an der Produktionsgeschichte hinterlässt der Film einen sehr homogenen Eindruck. Geschickt werden die Geschichten ineinander verschachtelt. Dieser höchst künstliche Akt wird nie als solcher wahrgenommen, da sich die Simulation des Authentischen deutlich in den Vordergrund schiebt: der reale 1. Mai auf den Straßen, die bewegte Handkamera, die weitgehend realistisch wirkenden Figuren, die echten Dialoge. Und es sind die Gesichter, die dem Konzeptfilm Leben einhauchen: die Grimme-Preisträger Jacob Matschenz, Ludwig Trepte oder Hannah Herzsprung in einer kleinen Rolle, Cemal Subasi als Türkenkid mit dem traurigen Blick und vor allem Peter Kurth als Alt-87er, der noch immer vom Barrikadenbauen träumt.
Eine Qualität dieses Episodendramas liegt auch in den Geschichten, Geschichten, die Gefühlsstaus und Aggressionen andeuten, die nicht auserzählt sind, die einen nicht kaltlassen. Am Ende lecken die müden Helden ihre Wunden. Im Kreuzberger Urban-Krankenhaus ist reichlich was los. Viele haben sich mindestens eine blutige Nase geholt an diesem 1. Mai.