Bergfried

Bucci, Haudum, Simonischek, Schneeberger, Jo Baier. Schuld hat kein Verfallsdatum

Foto: BR / Petro Domenigg
Foto Rainer Tittelbach

Ein Italiener auf der Suche nach einem Kriegsverbrecher, der 1944 ein Massaker an über 500 Zivilisten zu verantworten hatte. Jo Baier erzählt in „Bergfried“ sein differenziertes Rachedrama aus der Opfer-Perspektive, auch und vor allem als die Geschichte eines Traumatisierten. Die Dramaturgie mag konventionell wirken, ist aber wohl überlegt: drei Generationen, drei Zeit-Ebenen; die historische Schuld (be)trifft auch die Nachkommen. Und so kann die Liebe zwischen dem Italiener und einer Österreicherin keine Zukunft haben. Besonders gelungen ist dem Grimme-Preisträger eine 15-minütige Abrechnungssequenz. Eine intensive, hoch emotionale private „Gerichtsszene“. Auch sonst ist das Drama sehr sinnlich, ohne Erklärdialoge, und der authentische Cast aus „Stars“ & Namenlosen ist vorbildlich.

Anfang der 1980er Jahre. In einem österreichischen Bergdorf geht alles seinen Gang – bis plötzlich ein Italiener auftaucht, die Leute beobachtet, fotografiert und merkwürdige Fragen stellt. Vor allem die Männer begegnen jenem Salvatore (Fabrizio Bucci) mit Misstrauen. Bei einigen Frauen kommt der gut aussehende Mann, Anfang 40, besser an: bei der Wirtin (Eva Herzig), die den eifersüchtigen Nachstellungen und Schlägen ihres schwer behinderten Ehemannes (Gerhard Liebmann) ausgesetzt ist, ebenso wie bei der vereinsamten Zimmerfrau Frieda (Gisela Schneeberger), die ihm erst zögerlich, später immer bereitwilliger Auskunft gibt über die alten Männer im Dorf. Besonders gut kommt Salvatore bei der Krankenschwester Erna (Katharina Haudum) an, die sich nach ihrem Idol lieber Janis nennt und vom großen Aufbruch träumt, einen vierjährigen Sohn hat – Erzeuger unbekannt – und die nach einem Indien-Trip wieder bei ihrem störrischen Vater wohnt. Dieser, der alte Stockinger (Peter Simonischek), kümmert sich zwar liebevoll um seinen Enkel, für seine Tochter hat er aber nichts als Vorwürfe parat. Salvatore scheint für die junge Frau auch etwas zu empfinden. Sie verbringen einige schöne Augenblicke miteinander, doch wie schön kann die Zeit miteinander noch sein, wenn sich herausstellen sollte, dass der Vater dieser Frau ein Kriegsverbrecher ist, der 1944 Salvatores Familie und ein ganzes toskanisches Dorf ausgelöscht hat?!

BergfriedFoto: BR / Petro Domenigg
Kann ein Kriegsverbrecher ein liebender Großvater sein? Peter Simonischek und Kieran Lux

Wie erzählt man von einer wahren Begebenheit, die selbst noch unter all den Kriegsgräueln des Zweiten Weltkriegs an Grausamkeit ihresgleichen sucht? Und was vor allem erzählt man von diesem Kriegsverbrechen, damit es nicht wie so oft heißt: „Schon wieder ein Film über die Nazizeit?“ Der historieerfahrene Jo Baier („Stauffenberg“) entschied sich für die subjektiv erzählte Schilderung eines Überlebenden, der 1983 aufschreibt, was ihm die Tage zuvor in diesem österreichischen Dorf und was ihm 1944 als vierjähriger Junge in seiner toskanischen Heimat widerfahren ist. Erst viele Jahre später, mit der Beerdigung des von jenem Italiener als Kriegsverbrecher enttarnten Mannes, taucht das Schriftstück auf, erfahren die Tochter und ihr Sohn die ganze Wahrheit über jenen sturköpfigen alten Mann, der als „Opa“ auch seine liebenswerten Seiten hatte. Mit der Drei-Generationen-Geschichte, die auf drei Zeitebenen spielt, entscheidet sich Baier auch gegen eine spannungsdramaturgische Rekonstruktion eines vordergründigen Racheakts. Rache gibt es schon, aber eine, die sich langsam ins Bewusstsein des mordenden Verdrängungskünstlers frisst: viele Jahre muss der Alte noch mit der Vorstellung leben, dass sein geliebter Enkel irgendwann ein anderes, differenzierteres Bild von seinem geliebten Großvater haben wird. Mit Baiers Perspektive richtet sich die Historie stärker auf die Hinterbliebenen auf beiden Seiten, auf die Opfer, die weiterleben müssen, die Traumatisierten, und auf die, die die Schuld ihrer Familie auszuhalten haben. „Letztendlich geht es bei Salvatores Weg der Vergeltung auch darum, sein eigenes Leben in Ordnung zu bringen“, so beschreibt denn auch Hauptdarsteller Fabrizio Bucci die Motive seiner Figur.

Filmemacher Jo Baier über den historischen Hintergrund von „Bergfried“:
„Für mich zählt die Toskana immer schon zu den schönsten italienischen Landschaften. Schon als junger Mensch. In den achtziger Jahren, ahnte ich noch nicht, dass nur wenig nördlich des malerischen Städtchens Lucca, in den Apuanischen Bergen, im Sommer 1944 deutsche Soldaten ein schreckliches Massaker an italienischen Zivilisten, Frauen, Kindern und alten Männern verübten. Erst viele Jahre später erfuhr ich davon, hörte zum ersten Mal den Namen Sant’Anna di Stazzema, und davon, dass man hier am 12. August des Jahres 1944 etwa 560 Zivilisten umgebracht hatte, darunter allein 140 Kinder!“

„Mich interessiert an der Figur des Stockinger das, was man die ‚Banalität des Bösen’ nennt. Dass das Leben scheinbar gar keine Spuren mehr von der Vergangenheit aufweist.“ (Peter Simonischek)

„Fabrizio hatte sich, ohne ein Wort deutsch sprechen zu können, mit einem Video einer Drehbuchszene beworben und setzte sich gegen alle Mitbewerber durch. Seine Besetzung steht für den Mut aller Verantwortlichen und ganz besonders für seinen – sich dem Dreh in der für ihn vollkommen fremden Sprache zu stellen und damit der Figur und deren Fremdheit eine ganz besondere Authentizität zu geben.“      (Produzent Marc Müller-Kaldenberg)

BergfriedFoto: BR / Petro Domenigg
Traumatisiert und noch immer schwer verzweifelt: Salvatore (Fabrizio Bucci), der sein Leben zu ordnen versucht.

Autor-Regisseur Baier wählt bewährte narrative Muster und ästhetische Motive, um seine Geschichte, die auch und vor allem die Geschichte einer Traumatisierung ist, zu präsentieren: erzählte Rückblenden, der Fremde in der Dorfgemeinschaft, das Zueinanderfinden der Außenseiter, die tiefe Tragik einer Liebe, in der die Schuld der Väter wiederauflebt und damit das Diktum von der Vergangenheit, die endlich einmal ruhen solle, ad absurdum führt. Der Nebel hängt tief im Tal, Lieblosigkeit prägt den Alltag, und als der Italiener Abschied nimmt, weint der Himmel – da wirkt die Liebe zwischenzeitlich wie der einzige Rettungsanker für die, die anders sind als die Anderen. Eine Frau, die sich anfangs nicht noch weiter isolieren möchte im Dorf, zwischentonreich und leise von Gisela Schneeberger wunderbar verkörpert, erinnert sich plötzlich wieder an die alten Zeiten, mit den Obernazis im Ort: eine Figur, die auch klischeehaft hätte ausfallen können. Die Suche des Italieners nach einem der Männer, der für das Massaker in seinem Dorf verantwortlich war, wird erst spät beim Namen genannt. Dennoch weiß jeder Zuschauer Bescheid, der die Fragen jenes Salvatore hört. Und was kann ein Italiener schon wollen, der bei einem Besuch in Österreich Fotos von 1944 bei sich trägt?! Das Nicht-Aussprechen ist dennoch dramaturgisch eine gute Entscheidung – nicht, um künstlich Spannung aufzubauen, sondern um die Atmosphäre des Ungewissen sinnlich zu nähren. Überhaupt findet Baier immer wieder Bilder, Momentaufnahmen, die die Situation stimmungsvoll beschreiben. Da bedarf es keiner Erklärdialoge. Mehr noch: Die Gespräche erzielen öfter sogar eine vom schweren Inhalt der Geschichte entlastende Wirkung, weil in ihnen vor allem die unkonventionellen Charaktere das Sagen haben. Mag gerade die Darstellung des Traumas (Rückblende ins Jahr 1944, Leichen, dazu verzweifelt anno 1983 die Hände an den Schläfen) auch konventionell sein: die furios inszenierte 15-minütige Sequenz der Abrechnung lässt die altmodische Dramaturgie von „Bergfried“ vergessen: eine hektische Zwei-Personen-Konversation zwischen Anklage & Verteidigung, zwischen Schreien & Weinen. Nahe Wackelbilder mit Handkamera betonen das emotionale Chaos, in dem es zum Wechsel der Opfer-Täter-Rollen kommt. Und dem „Glück gehabt, kleiner Spagetti!“ möchte man als Zuschauer entgegensetzen: „Glück gehabt, Opi!“

Ein weiterer Pluspunkt ist die Besetzung. Die Mischung aus bewährtem Premium-Personal (neben Schneeberger gibt der sonst häufig als Alt-68er agierende Peter Simonischek eine brillant zurückgenommene Vorstellung) und unbekannten Gesichtern erweist sich als gute Wahl. Dass Fabrizio Bucci fast kein Deutsch spricht, verleiht seiner Performance mit ihrem Hang ins Lautmalerisch-Sinnliche eine ebenso große Glaubwürdigkeit wie dem Spiel von Katharina Haudum, der man die Bodenständigkeit ihrer Figur und deren Willen zum Anderssein inklusive ihrer Janis-Joplin-Verehrung jederzeit abnimmt (und die in einigen Momenten zeigt, dass sie ähnlich grob wie ihr Vater sein kann). Die verkappte Love-Story zwischen den beiden wird entsprechend ohne jeden Kitsch in Szene gesetzt – auch wenn sich die aus- und aufbruchbereite Erna mehr von der Liaison zu versprechen scheint, sieht sie in dem Italiener in erster Linie pragmatisch ihren Retter. Auch die Charakterzeichnung des alten Stockinger kommt ohne Klischees aus. Kein Schäferhund, keine alte Uniform im Schrank. Die Figur wird durchaus differenziert gezeigt: Der Alte erträgt den Radau der jungen Leute nicht mehr, hat offenbar die eigene Jugend vergessen, vielleicht aber auch keine gehabt. „Freiheit“ war für ihn damals kein Wert, Zwang und Pflicht standen über allem, waren wichtiger für die eigene Identität als „Moral“. Und dann begann offenbar für diesen jungen SS-Oberscharführer das große Vergessen. Kein Trauma wie bei den Opfern?! Als ihm der Italiener in jener eindrucksvollen Szene den Prozess macht, leugnet Stockinger zunächst („Ich war mein ganzes Leben noch nicht Italien“), bevor er die Tat indirekt zugibt, den schwarzen Peter aber von sich weg schiebt und sein Tun relativiert („Wir ham’s doch nicht gern g’macht“). Wie diese ‚Banalität des Bösen’ genau funktioniert, wie es sich mit der Schuld leben lässt und weshalb diese Schuld am Ende nicht gesühnt wird, beantwortet das Drama nicht. Baier: „Das sind die Fragen, die ich mit ‚Bergfried’ stelle, die ich aber auch nicht beantworten kann, weil sie vermutlich nicht zu beantworten sind.“

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Fernsehfilm

BR, ORF, WDR

Mit Fabrizio Bucci, Katharina Haudum, Peter Simonischek, Gisela Schneeberger, Kieran Lux, Eva Herzig, Gerhard Liebmann, Harald Posch, Werner Prinz, Brigitte Karner

Kamera: Martin Gschlacht

Szenenbild: Rudolf Czettel

Kostüm: Esther Amuser

Schnitt: Claus Wehlisch

Musik: Sebastian Fitz

Soundtrack: Janis Joplin („Me and Bobby McGee“)

Produktionsfirma: Zieglerfilm München, epo-film

Produktion: Marc Müller-Kaldenberg, Regina Ziegler

Drehbuch: Jo Baier

Regie: Jo Baier

Quote: 3,55 Mio. Zuschauer (12% MA)

EA: 21.09.2016 20:15 Uhr | ARD

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