Eine Erscheinung aus einer anderen Welt
Wie aus dem Nichts taucht in der Nähe von Aachen ein japanischer Mönch auf. Er hat eine blutige Wunde am Kopf, spricht wenig, will keine Hilfe und ist so plötzlich, wie er in der ländlichen Gegend erschienen war, auch wieder verschwunden. Die Kommissarin Louise Boni hat den asiatischen Geistlichen mit der geheimnisvollen Aura gesehen, hat Kontakt mit ihm aufgenommen, sie hat seine Angst gespürt und hat gemeinsam mit ihm in einer Höhle im Wald Zuflucht gesucht vor mehreren Verfolgern. Für sie ist Gefahr in Verzug. Ihr Chef indes hält ihre Vermutungen für die Hirngespinste einer Alkoholikerin und will die nach einem tödlichen Einsatz immer labiler, eigensinniger und unzuverlässiger gewordene Polizistin auf Entzug schicken. Bonis Gefühl hat sie aber nicht getäuscht. Bald gibt es einen Toten und einen Schwerverletzten. Dennoch wird sie suspendiert, ermittelt aber ohne Marke und ohne Waffe weiter und stößt dabei auf ein geheimnisvolles Zen-Kloster und eine Kinderhilfsorganisation.
Ein Fall mit einer Kommissarin, die trinkt
Vom ersten Bild an erkennt man als Zuschauer, dass es bei „Begierde – Mord im Zeichen des Zen“ den Verantwortlichen in Sender und Produktion nicht darum ging, einen weiteren der unzähligen „normierten Schnitzeljagdkrimis“ abzuliefern. Sonst hätten sie wohl auch nicht eine Vorlage von Krimiautor Oliver Bottini gewählt und für diesen ARD-Donnerstagskrimi nicht die auf Dramen spezialisierten Grimme-Preisträgerinnen (2014 für „Grenzgang“) engagiert, die Autorin Hannah Hollinger und die Regisseurin Brigitte Maria Bertele. Und dann diese Kommissarin! Das Etikett „Einzelgänger“ ist noch viel zu wenig für sie. Louise Boni ist eine Frau, die keinen Einsatz ohne Alkohol übersteht, die widerborstig, sprunghaft und für Freund und Feind äußerst schwer einzuschätzen ist. Eine gebrochene Heldin par excellence. Melika Foroutan spielt sie sensationell. Rauchend, trinkend, den Körper und ihre Stimmungen nicht immer so ganz im Griff. Und dann dieses Gesicht! Bertele spricht vom „Protokollieren von Landschaften – auch Gesichtslandschaften“. Das muss sie damit meinen: die hohlen Wangen, die tiefliegenden, dunkel schwarz umschminkten Augen, die von der Maske auf besonders kantig getrimmten Backenknochen – „Teintprobleme“ nennt das der Oberboss. Man könnte auch schön verlebt sagen. Die Verwundbarkeit dieser Antiheldin, die auch eine geradezu obsessive Hartnäckigkeit an den Tag legt, wirkt hier alles andere als behauptet. Es ist nicht die krimiübliche Setzung, die so viele Auftaktfolgen zu Krimi-Reihen standardisiert erscheinen lässt. Foroutans Boni dagegen lebt. Und sie fordert einen heraus. Nicht nur ihre Kollegen.
Foto: WDR / Frank W. Hempel
Ein Krimi mit einer „ganzheitlichen“ Spannung
Mit einer solchen intuitiv handelnden, zerbrechlichen, ruhelosen und tief verletzten Frau als Ermittlerin und mit dem Buddhismus im Schlepptau des Subtextes muss auch das Spannungskonzept ein anderes sein als bei herkömmlichen Fernsehkrimis. Gleich zu Beginn geraten Boni und ihr Chef Bermann grundsätzlich aneinander. Er kenne nur rechts oder links, schwarz oder weiß, Mann oder Frau, nichts dazwischen, wirft sie ihm vor. Später dann schlägt er verbal zurück: „Du bist halt ’ne Frau, du bist nicht logisch und strukturiert. Du denkst nicht rational und analysierst auch nicht neutral.“ Drehbuchautorin Hannah Hollinger erteilt aber nicht nur der klassischen Ermittlungsarbeit, die vornehmlich den Gesetzen der männlichen Logik gehorchen, sondern auch weitgehend der genretypischen Finalspannung eine Abfuhr. So wie der Mensch im Zen-Buddhismus nicht der Beherrscher der Welt ist, so ist die „amerikanische“ Dramaturgie in „Begierde – Mord im Zeichen des Zen“ nicht der Beherrscher dieser wundersamen Krimigeschichte. Und auch die Dialoge sind von großer Dichte und feiner Reduktion, die mitunter auch einen lebensphilosophischen Unterboden haben. So reflektiert die Heldin in einem kurzen Moment über ihren Glauben an Gott, der ein Nichtglauben ist, und ihre Unwissenheit, was den Buddhismus angeht, um sich selbst darüber ein bisschen zu wundern: „Ich glaube an etwas nicht, über das ich nichts weiß. Interessant.“
Soundtrack: Cliff Martinez („Take It Off“ / „More Hands“), The Cure („The End Of The World“), Kat Frankie („People“), Apocalyptica („Drive“), Mogwai („The Huts“), Barclay James Harvest („Sip Of Vine“), Kevin Shields („Goodbye“), Kronos Quartet & Mogwai („Xibalba“), Olafur Arnalds („For Teda“)
Brigitte Maria Berteles über die „Zen-Werdung“ der Geschichte:
„Den Inhalt des Films habe ich mir immer als dichtes Gewebe vorgestellt, in dem alles miteinander verbunden ist und sich nicht gegenseitig ausschließt:
Texte & Reaktionen, Gesagtes & Ungesagtes, Gedachtes & Unbewusstes, Unterdrücktes & Ausgelebtes, Verborgenes & zur Schau gestelltes, Bewusstheit & Delirium, Verletztheit & Stärke, Verstehbares & Unfassbares, Macht & Ohnmacht, Selbstbild & Selbstbetrug, Sehnsucht & Unterdrückung, Höhenflug & Abgrund, Zuwendung & Abwendung, Hunger & Begehren.“
Eine Inszenierung, die dem Singulären einen Wert gibt
Da schwingen zwei im gleichen Takt, lieben dieselbe Tonlage. Und doch erweitert Regisseurin Bertele wie schon im meisterlichen „Grenzgang“ das Konzept von Hollingers Drehbuch um eine glasklare Inszenierung mit Ecken, Kanten und doch einer großen Eleganz. „Die Zen-Welt diente mir als bedeutende Inspirationsquelle“, sagt Bertele. Man sieht es den Bildern an, dieser achtsam komponierten und mitunter abstrakt anmutenden, geradezu surrealen Ikonografie aus Lichtspiel & Schatten, aus Formen & Farben. Auch strukturiert und montiert ist der Film eher Arthaus-like. Gerne mal wird das Raumzeit-Kontinuum durchbrochen, tritt Singuläres aus den Sequenzen: ein Diskurs über männlich/weiblich, Bilder, die mit ihrer Schönheit, ihrer Virulenz oder sinnlichen Kraft den Erzählfluss unterbrechen, mal eine irritierende Großaufnahme, die der orientierenden Totale vorangestellt wird, mal eine fast religiös anmutende Berührung. Mitunter verselbständigen sich die Dinge, die Apparaturen im Krankenhaus, ein Käfer im Wald, ein Satz unter vermeintlichen Leidensgenossen („Haben Sie immer die Kraft Ihren Sehnsüchten zu widerstehen?“). Der handlungsorientierte Zuschauer mag diesen von solchen dezenten Brüchen und zärtlichen Verfremdungen geprägten Stil vielleicht etwas spröde finden, die überaus präzise Ästhetik des Films schafft aber ihrerseits einen atmosphärischen Erzählfluss, der den 90 Minuten dann doch wieder eine große Geschlossenheit verleiht.
Foto: WDR / Frank W. Hempel
Eine kreisende Konzeption, ein ästhetischer Zirkel
Als Berteles ästhetische Referenz lässt sich der französische Film Noir ausmachen, insbesondere Jean-Pierre Melville, der seinerseits in seiner Filmsprache vom japanischen Kino – am explizitesten in „Der eiskalte Engel“ (OT: „Le Samourai“) – beeinflusst wurde. Die religiöse Komponente und der (französische) Umgang mit Moral erinnert zudem mehr an Robert Bresson oder an französische Krimiautoren als an die vielen meinungsstarken Betroffenheitskommissare des deutschen Fernsehens. Film, das ist für Bertele, die ausgebildete Schauspielerin und Regie-Hochschulabsolventin, eine komplexe Textur, „ein dichtes Gewebe“, das schließlich nur durch das kongeniale Zusammenspiel aller Gewerke erschaffen werden kann. Das klingt nach großer Kunst. Ist es vielleicht auch. Aber die ganz große Kunst besteht darin, dass man es nicht sieht, weil eine große Unmittelbarkeit, eine hohe Sinnlichkeit in den Bildern liegt und eine intensive Physis das formale Konzept (auf)bricht. Damit wären wir wieder bei der faszinierenden Hauptfigur und der großartigen Melika Foroutan. Was nur wieder Berteles Konzept vom Film als einem dichten Gewebe, in welches auch Gegensätzliches eingewoben wird, bestätigt. Und von da ist der Weg zu Zen im Sinne einer „Liebeserklärung an die Schöpfung“ auch nicht weit. (Text-Stand: 11.1.2015)