„Welches Pronomen hast du eigentlich?“ Charlie (Lea Drinda), Anfang 20, macht große Augen, als Zufallsbekanntschaft Ronja (Sira-Anna Faal) ihr beiläufig diesen Satz zuwirft. Charlie ist verwirrt. Wo kann sie sich Rat holen? Im Umfeld einer Offenbacher Plattenbau-Siedlung jedenfalls nicht. Ihre Busenfreundin Alina (Aiken-Stretje Andresen) ist dafür nicht die richtige Adresse. Ein Kuss belastet ohnehin schon die Freundschaft der beiden. Denn Alina ist fest liiert und schwanger, da muss es mit den sexuellen Jugendexperimenten ein Ende haben. Nicht viel erwarten kann Charlie auch von ihrer Mutter Rowena (Bärbel Schwarz); im Gegenteil, die bi-polar veranlagte Frau benutzt ihre Tochter als Rettungsanker für ihre extremen Stimmungsschwankungen. Mit Tante Fabia (Katja Bürkle) gibt es zwar immer mal wieder Streit wegen Geldrückzahlungen; aber mit deren klaren Ansagen kann Charlie besser umgehen als mit den manisch-depressiven Schüben ihrer Mutter. Die Nähe zu ihr wird erleichtert durch Fabias sexuelle Orientierung. Und da ist auch noch ihre Partnerin Maya (Dalila Abdallah), weicher als sie, verständnisvoll und zugewandt. Reden über ihre Probleme will Charlie mit den beiden aber erst mal nicht. Sie hat ohnehin wenig Zeit, ist mal wieder auf Jobsuche und will bei ihrer Mutter ausziehen. Zum Abhängen kommt sie kaum noch. Wenn überhaupt, dann geht’s mit Kumpel Nikolas (Danilo Kamperidis) in die Muckibude.
Foto: ZDF / Tatiana Vdovenko
„Bei mir stimmt das, was ich fühle, nicht mit dem überein, was andere Menschen sehen, wenn sie mich sehen.“ So klar, wie es andere im Internet formulieren, hat die Titelfigur von „Becoming Charlie“ für sich dieses Unwohlsein noch nicht auf den Punkt bringen können. Jetzt muss sie erst mal die neuen Infos verdauen, das Ganze in der Praxis gegenchecken. Dieses Rütteln an scheinbar unumstößlichen Wahrheiten verunsichert, macht verletzlich, aber es bietet die Chance einer neuen Perspektive für ihr Leben, das die letzten Jahre ein einziges Provisorium war. In einem Alltag, der immer nur von Geldsorgen bestimmt wird, bleibt wenig Zeit für Psyche und Selbstsuche. Die ZDFneo-Serie erzählt von dem Weg einer biologischen Frau, die über das Gefühl, eher ein Mann zu sein, zu der Erkenntnis gelangt, sich keinem Geschlecht zugehörig zu fühlen, also non-binär zu sein. Diese Suche nach der eigenen Identität verfolgt man in den rund 100 Minuten ganz aus der Perspektive der Hauptfigur. Der Familien- und Freundeskreis bleibt überschaubar. Das Beziehungsnetz ist strategisch gut gespannt. Jede Nebenfigur besitzt eine narrative Funktion, und das Milieu wird knapp und klar umrissen. Dabei bekommt man aber nie den Eindruck, Charaktere und Dramaturgie würden Stereotype reproduzieren. Stattdessen ergibt sich aus dem stimmigen Spiel und der filmischen Anmutung dieser Serie ein Realismus-Effekt, der über jeden Klischee-Verdacht erhaben ist.
„Fernsehen macht sichtbar. Nicht-binäres Leben ist nach wie vor ein blinder Fleck in weiten Teilen unserer Gesellschaft. Das hat auch damit zu tun, wen Fernsehen zeigt (und wen nicht). Die Anfeindungen, die Gewalt, die Aggressionen, die nicht-binäre Menschen und trans*Personen im Alltag aushalten müssen, hat schwerwiegende Folgen. Dagegen will ich mit ‚Becoming Charlie‘ anarbeiten … Kein Fremdblick, sondern hundertprozentige Authentizität. Ich will Menschen aus dem nicht-binären Spektrum mit ‚Becoming Charlie‘ eine Identifikationsfigur schenken. Und ich hoffe, dass Menschen, die bisher keine Berührungspunkte mit nicht-binärem Leben hatten, sich annähern können an das Thema.“
(Lion H. Lau)
Foto: ZDF / Philip Jestädt
Dennoch begnügen sich Autor*in Lion H. Lau („Polizeiruf 110 – Totes Rennen“) und die Regisseurinnen Kerstin Polte („Wir“) und Greta Benkelmann nicht mit einer kunstlosen Abbildung der Wirklichkeit. Im Gegenteil: Alle Gewerke leisten Vorzügliches. Die Kamera-Arbeit ist mit ihren betörenden Licht- & Farbspielen auf der Höhe der Zeit und sie unterstützt dabei ständig das Erzählte, ohne dies auszustellen. Immer wieder gibt es originelle Bild-Ideen. Als sich in einer Schlüsselszene Charlie mit Zellophan die Brüste wegklemmt, wird dies aus gebührender Entfernung gezeigt, wodurch der Blick freigegeben wird auf ein Badezimmer, dessen Enge die soziale Enge und das seelische Korsett von Charlie spiegelt. In einer früheren Szene steht Charlie vor dem Spiegel und sucht mit Schminke (Makeup oder Bart?) und zwei Pullis ihr/sein Geschlecht. Solche sinnlichen Sinnbilder machen die inneren Konflikte sichtbar. In der sechsten Folge ist Charlie verzweifelt, einem Zusammenbruch nahe: Welche Toilette ist die richtige? Und doch: „Probleme sind größer als die Zeichen auf einem Klo“, heißt es im Finale in Charlies selbst verfasstem Rap-Song. Diese Serie zeigt, wie man mit einfachen Mitteln große Wirkung erzielt. Bereits in der ersten Folge wird in der Wohnung von Charlie und Mutter Rowena der Strom abgestellt. Wie sexy Halbdunkel sein kann, zeigen Lotta Kilian & Philip Jestädt ohnehin die ganze Serie hindurch; hier öffnet es die Möglichkeit, mit Kerzen und Lichterketten für optische Reize zu sorgen, deren mattes Leuchten gleichsam ständig an die prekäre finanzielle Lage der Familie erinnert. Und als Charlies Leben auf den Kopf gestellt wird, teilt sich das Bild in zwei Charlies, eine(r) schaut normal in die Kamera, der/die andere steht Kopf. Dann ist da noch das Spiel mit der Enge und dem Wunsch nach Freiheit. Anfangs hört man die Flugzeuge, später sieht man sie fliegen. Der Himmel weit, der Aufbruch nah.
Foto: ZDF / Tatiana Vdovenko
Soundtrack: Goran Bregovic („Kalasnjikov“), Diplo & Damian Lazarus feat. Jungle („Dont Be Afraid“), The Stranglers („Golden Brown“), Nicki Minaj („Pound The Alarm“), Ezra Furman („I Wanna Be Yout Boyfriend“), Modest Mouse („Shit Luck“), Dynoro & Gigi D’Agostino („In My Mind“)
Überall, in jedem Bild ist Charlie, kein „sie“, kein „er“, einfach nur Charlie – und das Gesicht von Lea Drinda. Mit ihren Hauptrollen in „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“, der Jugendserie „Mysterium“ und der „Stralsund“-Episode „Wilde Hunde“ ist sie DIE Entdeckung des letzten Jahres. Früher sagte man: Die Kamera liebt dieses Gesicht. Klingt gut, ist aber nichtssagend. Es ist die die Offenheit ihrer Physiognomie, die ihren Figuren etwas Geheimnisvolles gibt, und es sind ihre Blicke, die Weite, Euphorie, die Angst oder seelische Störungen konnotieren können, die sie zu etwas Besonderem machen. Androgynität, Lolita-Touch, Jugendpower, Seelenpein – Drinda ist eine perfekte Projektionsfläche, für jedes Geschlecht, jede sexuelle Präferenz. Das macht sie zur idealen Besetzung für „Becoming Charlie“. Drinda als Charlie, da wird Identifikation zum Kinderspiel. Als Noch-Frau ist sie kein Trouble-Girl. Sie emanzipiert sich von der Mutter, wird dadurch aber nicht zum Unmenschen. Auch das Liebäugeln mit dem klassischen Männerbild macht Charlie nicht zum Macho. Es fällt leicht, mit dieser Figur mitzugehen, mitzufühlen, mitzufiebern, die Reise in ihre neue Identität mitzumachen – auch für jemanden, dem die Lebenswelten der LGBTQI+-Community fremd sind. Am Ende rappt Charlie sich frei, bringt die Erfahrungen der letzten Zeit mit Kraft, Energie und Lebenslust noch einmal auf den Punkt. In Zeitlupe tanzt sie mit drei Gleichgesinnten am Wasser – und der Himmel ist so weit und plötzlich ganz nah. Bisher waren die Flugzeuge in ihrem Kopf. Jetzt scheint sie selbst zu fliegen. (Text-Stand: 13.4.2022)