Mit 40 Millionen Euro die teuerste Serienproduktion ever, 14 Grimme-Preise, ein Verkaufserfolg national und international: Die ersten beiden Staffeln „Babylon Berlin“ (16 Folgen, Oktober 2017 auf Sky, September 2018 in der ARD) zoomen zurück ins Jahr 1929. In der Serie nach Volker Kutschers Romanvorlage „Der nasse Fisch“ irren die Ermittler Gereon Rath (Volker Bruch) und Charlotte Ritter (Liv Lisa Fries) durch eine Welt, die keine allgemeingültigen Gesetze kennt, in der kriminelle Verflechtungen zwischen Politik und Unterwelt kaum noch zu durchschauen sind. 730 Minuten Tanz auf dem Vulkan, der Anfang vom Ende, Weltwirtschaftskrise und Hinterhof-Elend. Dazu die nötige Portion Krimi, Tod(essehnsucht), Sex und Angst. Gut drei Jahre später schickt Staffel drei (12 Folgen, EA im Januar 2020 auf Sky, Oktober 2020 in der ARD) die Kommissare auf Mördersuche durch die Kulissen einer Stummfilmproduktion und erweitert das bekannte Setting um das Panoptikum des Kinos. Die inneren Dämonen des Gereon Rath begegnen den aufgerissenen Augen jener, die à la Dr. Mabuse und Co. die Illusionswelten der 1920er-Jahre bevölkern. Statt Rangier-Bahnhof und einem Goldzug, den die Konterrevolutionäre gen Osten schicken, übernimmt die Geisterbahn. Das entspricht zwar Kutschers Vorlage „Der stumme Tod“, sah nach Meinung mancher Kritiker jedoch mehr nach Phantomschmerz als nach Weiterentwicklung aus.
Die vierte Staffel (12 Folgen, Ausstrahlung Oktober 2022 auf Sky, 2023 in der ARD) beruht auf Kutschers Roman „Goldstein“. Gereon Raths dritter Fall beginnt in der Silvesternacht 1930/31. Schon die Auftaktfolge klärt die Fronten. Auf der Straße rückt die SA gegen Polizei und Kommunisten aus, im Schloss der Industriellenfamilie Nyssen feiert man das Silvesterfest mit einer Mondrakete im Separee. Das ist der historische Hintergrund, das sind die Milieus, in denen diesmal getanzt, gemordet und ermittelt wird. Rath und Ritter geraten wie immer zwischen die Fronten. Ein Kaufhauseinbruch, in den Charlottes Schwester Toni (Irene Böhm) verwickelt ist, kostet sie den Job. Und Rath, der als verdeckter Ermittler bei der SA mitmarschiert, verliert dadurch seine sicherste Vertraute. Der Bruch zwischen ihm und Charlotte Ritter mündet zur Staffelhälfte in einen Twist, der vieles vom Kopf auf die Füße stellt. Von da an wird es für die beiden brandgefährlich.
Mit dem an die expressionistischen Kinobilder eines Walter Ruttmann erinnernden Vorspann ist man drin. Licht aus, Spot an: Die Irisblende gibt den Blick auf einen uns vertrauten Kosmos frei. Wie eine gut geölte Maschine kommt der Wahnsinn schnell in Gang. Staffel vier kehrt mit bekannten Gesichtern an etablierte Schauplätze zurück. Neben unzähligen Set-Assistenten waren u.a. 26 MaskenbilderInnen, vier AusstatterInnen und zehn Set-DresserInnen an Vorbereitung und Dreh beteiligt. Im Vorfeld von 125 Drehtagen von März bis September 2021 richtete man die Schauplätze ein, die Fans von „Babylon Berlin“ erwarten: Die Rote Burg, das Moka Efti, das Eisenbahndepot, das Anwesen der Nyssens oder die Box-Clubs der Ringvereine. Das Polizeipräsidium „Rote Burg“ entstand zum dritten Mal an anderer Stelle. Erkennbar ist das nicht. Durch die beeindruckenden Kulissen von „Babylon Berlin“ huscht eine bange Frage: Wie zu alldem zurückkehren, ohne nur das Alte zu variieren? Schlimmer noch: vielleicht sogar zu langweilen? Der Zweifel verliert sich. Es gibt viel, was die vierte Staffel vor Langeweile bewahrt. Es gibt viel Neues. Der gesetzte Rahmen dieser Vision von einer Stadt am Abgrund ist allen vertraut. Das erlaubt der Regie wie dem Zuschauer, sich auf die Komplexität der Geschichte(n) zu konzentrieren, neue Territorien im Moloch Berlin auszumachen und in der Art des filmischen Erzählens neue Wege zu gehen. Gemeinsam mit den für Staffel vier hinzugekommenen Autorinnen Bettine von Borries und Khyana el Bitar ist das dem Regie-Trio Tom Tykwer, Henk Handloegten und Achim von Borries gelungen.
Inhaltlich neu ist die absolute Präsenz der Nationalsozialisten. Zu Anfang eher marginalisiert, in Staffel drei schon stärker, brechen die Nazis jetzt mit voller Wucht durch. Unter ihrem Anführer Walther Stennes (Hanno Koffler) demonstrieren die Schlägertrupps der SA ihren Willen zur Macht und sagen der von Regierungsrat Wendt (Benno Fürmann) gedeckten und aus München gesteuerten SS den Kampf an. Neben den Flügelkämpfen innerhalb der Partei offenbart sich auf der Straße ihre brutale Gewalt gegenüber der jüdischen Bevölkerung. Die auf Volker Kutschers Roman „Goldstein“ beruhende vierte Staffel führt damit zum ersten Mal in die Welt der orthodoxen Juden Berlins. An der Seite des Amerikaners Abe Goldstein (Mark Ivanir) betritt der Zuschauer bislang unbekannte Ecken im Scheunenviertel, die das Zeit- und Stadtporträt, das „Babylon Berlin“ neben aller Krimispannung ausmacht, um neue Terrains erweitert. Auch neu: Goldsteins Suche nach dem gestohlenen Juwel seines Vaters etabliert einen Erzählstrang, in den die Berliner Polizei gar nicht unmittelbar verwickelt ist.
Ohnehin agieren die etablierten Figuren inzwischen freier voneinander. Längst hängt das Vorankommen nicht nur von Gereon Rath und Charlotte Ritter ab. Mehr und mehr trägt das ganze Ensemble die Geschichte. Jeder und jede steht auf eigenen Beinen, kämpft seinen oder ihren eigenen Kampf. Ganz oben: der ebenso steril wie exzentrisch gezeichnete Unternehmersohn Alfred Nyssen (Lars Eidinger gibt das verstrahlte Mamasöhnchen in XXL-Schlaghosen wie gehabt), ganz unten Charlottes Schwester Toni (Irene Böhm), die in der vierten Staffel enorm an Format gewinnt. In der Unterwelt bekommt es Walter Weintraub (Roland Zehrfeld) mit Goldsteins Rache und einer unangenehmen Wiederauferstehung zu tun, im Widerstand fährt die patente Frau Behnke (Fritzi Haberlandt) zu voller Größe auf. Zur Eigenständigkeit der Milieus gehören eigenständige Erzählformen. Wenn im Bandenkrieg die MG-Salven eines Maschinengewehrs ihr Opfer in einem Berliner Hausflur zersieben, erinnert das an ikonografische Szenen der „Pate“-Trilogie. Die Handlung rund um Behnke dagegen erfrischt immer wieder durch ironische Untertöne und gipfelt in eine kolportagehaft amüsante Szene, in der Behnke, ihre Vertraute Malu Seegers (Saskia Rosendahl) und der hastig getarnte Rath (Volker Bruch mit angeklebtem Poirot-Bärtchen) dem Feind geheime Papiere der Reichswehr abluchsen. Allen diesen Episoden gemein ist: Helden und Schurken sind dem Zuschauer jeweils gleichermaßen nah. Beide Seiten kennen wir gut.
Die angestammten „Babylon Berlin“-Regisseure Tykwer, Handloegten und von Borries verteilten sich für Staffel vier je nach Verfügbarkeit auf die Drehorte. Keiner der Drei ist automatisch auf bestimmte Schauplätze abonniert. Statt Vorlieben zu pflegen, vertraut das Trio auf eine eingespielte Crew. Ein Pfund sind Hanno Koffler und Benno Fürmann, die die Schlagkraft (Koffler) und Intelligenz (Fürmann) der Nationalsozialisten fulminant verkörpern, ohne ihre Figuren dabei als mordlüsterne Idioten zu zeichnen. Die Gefahr tarnt sich als gesunder Menschenverstand. Als Verständnis für die Sorgen des kleinen Mannes. Gereon Raths Kampf gegen seine inneren Dämonen blitzt wie gehabt in surrealen Therapie-Sitzungen auf. Als surreal-grelle Farbtupfer meist an Anfang oder Ende einer Episode gesetzt, treten diese halluzinatorischen Momente jedoch gegenüber den Herausforderungen des realen Bösen in den Hintergrund. Je mehr Rath und Ritter der Selbst-Justiz der Polizisten von Abschnitt 14 und ihrer Geheimorganisation, der „Weißen Hand“ auf die Spur kommen, desto mehr verlieren sie die Kontrolle. In Episode neun geht Ritter-, in Folge zehn Rath durch die Hölle. Beide „Helden“ haben ihr Solo in diesem allgemeinen Veitstanz.
Den Takt zu diesem Tanz gibt diesmal „Ein Tag wie Gold“ als Hit der Stunde vor. Wo vormals „Zu Asche, zu Staub“ einen dunklen, bedrohlichen Ton anschlug, wird diesmal fröhlich geträllert. Weitermachen, obwohl die Welt untergeht – nach dieser Devise komponierten Max Raabe und Annette Humpe einen Song, der Abgrund und Leichtigkeit vereint. In den 12 neuen Episoden wird er zu den verschiedensten Anlässen unterschiedlich gesungen und interpretiert. Feierlich im Silvester-Kreis der Nyssens, mitgegrölt in den Kneipen der Stadt, schneidend scharf in der Version von Esther Kasabian (Meret Becker), die ihn beim Tanzmarathon im Moka Efti zelebriert. Die Welt – in einem Lied verschieden interpretiert. So wie „Babylon Berlin“ als filmische Vision der Vergangenheit die Verwerfungen der Gegenwart interpretieren oder kommentieren könnte. Dass das ungeplant in einigen Sequenzen funktioniert, hebt die Serie erneut über alle anderen Produktionen des derzeitigen 1920-Jahre-Hypes hinaus.