Aufgestaut

Grünewald, Stoll, Garin, Matthias Thönnissen, Zarah Schrade. Gesichter in der Menge

Foto Tilmann P. Gangloff

„Aufgestaut“ (ZDF / Tellux) folgt dem Erzählprinzip „Gesichter in der Menge“ und pickt sich in jeder Folge eine oder zwei Personen heraus, aus deren Perspektive die Ereignisse geschildert werden: Eine fünfköpfige Gruppe hat eine Straße blockiert. Die Reaktionen der Betroffenen fallen gänzlich unterschiedlich aus. Einige scheinen nur auf einen Moment wie diesen gewartet zu haben, um endlich ihre Wut rauslassen zu können; ein Porschefahrer rastet völlig aus. Eine junge Frau findet die Aktion eigentlich toll, aber nicht gerade heute, eine Wackersdorf-Veteranin will ein Fanal setzen, ein Paketbote wird zum Helden des Tages. Die sechs Folgen dieser mit unter anderem Daniel Donskoy, Wayne Carpendale und Franziska Walser prominent besetzten Serie von Matthias Thönnissen und Zarah Schrade dauern im Schnitt bloß 15 Minuten und sind entsprechend kurzweilig.

Wer an einem Werktag in der Großstadt mit dem Auto unterwegs ist, fährt in der Regel nicht spazieren; alle wollen von A nach B, und zwar so schnell wie möglich. Einer muss Pakete ausliefern, eine andere hat den wichtigsten Termin ihres Lebens, ein Vater will seine Tochter in der Kita abholen, eine Frau ist mit Wehen auf dem Weg ins Krankenhaus. Diese Menschen und noch einige mehr haben eines gemeinsam: Sie kommen nicht weiter, denn die Straße ist blockiert; eine fünfköpfige Gruppe will darauf aufmerksam machen, dass viel zu wenig gegen den Klimawandel getan wird. Damit bei einem Notfall Platz für einen Krankenwagen bleibt, haben sich allerdings nicht alle auf dem Asphalt festgeklebt.

AufgestautFoto: ZDF / Bernd Schuller
Der clevere Serien-Titel „Aufgestaut“ bezieht sich nicht allein auf die Straßensperre der Klima-Protestgruppe um Anatol (Valentino Dalle Mura), Henning (Joachim Seemann), Lena (Valerie Stoll), Finn (Adrian Grünewald) und Franzi (Maria Goletz)

Der clevere Titel „Aufgestaut“ bezieht sich nicht allein auf die Straßensperre: Einige der Betroffenen scheinen nur auf ein Ventil für ihre Wut gewartet zu haben. Verschiedene Reportagen haben dokumentiert, dass die Aktionen der „Letzten Generation“ zum Teil erschreckend aggressive Reaktionen auslösen. Ein besonders zorniger Porschefahrer (Wayne Carpendale) rastet zwar aus, belässt es jedoch zum Glück bei Beleidigungen; in der rauen Wirklichkeit müssen die „Klimakleber“ durchaus mit Handgreiflichkeiten rechnen. Am Beispiel einer jungen Frau, deren Auto bloß gemietet ist, weil sie mit ihrem Cello auf dem Weg zum Konservatorium ist, verdeutlichen Matthias Thönnissen und Zarah Schrade (Buch und Regie) die Ambivalenz vieler Menschen: Ava (Nadja Sabersky) hat ein Vorspiel, das über ihre Karriere als Orchestermusikerin entscheidet. Eigentlich unterstützt sie Aktionen wie diese, aber heute passt es gar nicht.

„Aufgestaut“ ist Teil der „Instant Fiction“-Initiative des ZDF. Diese Produktionen werden mit wenig Aufwand und in kurzer Zeit umgesetzt; so kann auch fiktional vergleichsweise rasch auf aktuelle Ereignisse reagiert werden. Unter der Prämisse haben Thönnissen und Schrade bereits „Schlafschafe“ (2021) gedreht; in der tragikomischen Serie mit Daniel Donskoy und Lisa Bitter muss ein Mann damit klarkommen, dass seine Frau während der Corona-Pandemie zur radikalen Anhängerin einer Verschwörungserzählung wird. Donskoy wirkt auch diesmal mit: Polizist Wuttke hat keine Lust mehr auf solche Einsätze, zumal es ihm beim Versuch, den einzigen nicht festgeklebten Teilnehmer von der Straße zu tragen, in den Rücken fährt. Dann muss er auch noch neues Speiseöl besorgen, um den Sekundenkleber aufzulösen. Prompt solidarisiert sich der Spätkauf-Verkäufer mit der Gruppe und verlangt einen Wucherpreis.

AufgestautFoto: ZDF / Bernd Schuller
Keine Chance! Zeynep (Miriam Ohlmeyer) und Max (Fatoni) sind verzweifelt: Die werdenden Eltern müssen dringend ins Krankenhaus, doch der Weg für die Rettungsgasse ist versperrt.

Die sechs als Fortsetzungsgeschichte angelegten, aber binnendramaturgisch konzipierten Episoden dauern im Schnitt fünfzehn Minuten und folgen dem Erzählprinzip „Gesichter in der Menge“: Scheinbar willkürlich werden in jeder Folge ein oder zwei Beteiligte herausgepickt, weshalb die Erzählperspektive ständig wechselt; zum Beispiel zu Lew (Nicolas Garin), dem russischen Paketboten, der von seinem Smartphone regelmäßig über den aktuellen Stand seines Zeitbudgets informiert wird. Er steht unter permanentem Druck, wird am Ende aber dennoch zum unbesungenen Helden des Tages, wobei eine Plastikschere aus einer Kinderzeitschrift eine besondere Rolle spielt. Über die Hintergründe der Menschen offenbart die Serie nur wenig, wie das eben so ist bei flüchtigen Begegnungen, aber die Informationen genügen, um sich eine Biografie denken zu können: Der junge Mann aus dem Späti heißt Paul (Ben Andrews Rumler) und braucht dringend Geld, damit sich sein Bruder in Ghana eine neue Wasserpumpe für seine Erdnussplantage kaufen kann. So schlägt die Serie den Bogen von unserem Lebensstandard, den wir nicht einschränken wollen, zu jenen, die von der Erderwärmung ungleich stärker betroffen sind.

Zwischendurch wird es auch mal unverhofft witzig. Finn (Adrian Grünewald) hat sich zum ersten Mal festgeklebt, und das auch noch mit beiden Händen. Aber erst mal hat er ein anderes Problem. Zum Glück kommt sein Opa (Daniel Friedrich) vorbei. Der alte Herr, Richter a.D., ist schockiert, dass der Jurastudent mit einer Verhaftung eine ähnliche Laufbahn aufs Spiel setzt, aber er will natürlich nicht, dass sich sein Enkel in aller Öffentlichkeit in die Hose pinkelt. Die kleine Heiterkeit bleibt jedoch die Ausnahme, zumal sich kurz drauf eine Wackersdorf-Veteranin (Franziska Walser) zu der Gruppe gesellt: Margot will die Bevölkerung mit einem Fanal aus ihrer Bequemlichkeit reißen; und jetzt wird es dramatisch.

AufgestautFoto: ZDF / Bernd Schuller
Aufgestaut hat sich so einiges bei dem Familienvater (Wayne Carpendale), der seine Tochter im Kindergarten abholen muss. Verzweifelt ist auch der Paketfahrer Lew (Nicolas Garin). Das Verständnis für die Klimakativisten ist bei den meisten gering.

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Serie & Mehrteiler

ZDF

Mit Adrian Grünewald, Valerie Stoll, Nicolas Garin, Ben Andrews Rumler, Daniel Donskoy, Wayne Carpendale, Daniel Friedrich, Nadja Sabersky, Valentino Dalle Mura, Franziska Walser, Altine Emini, Miriam Ohlmeyer, Ferdinand Dörfler

Kamera: Sebastian Bäumler

Szenenbild: Benjamin Scholl

Kostüm: Gesa Lüthje

Schnitt: Christoph Klotz

Musik: Florian Kreier, Christoph Beck

Soundtrack: Jimi Hendrix („All Along The Watchtower“), Kummer & Fred Rabe („Der letzte Song (Alles wird gut)“)

Redaktion: Esther Hechenberger, Julia Sattler

Produktionsfirma: Tellux Film

Produktion: Philipp Schall

Drehbuch: Matthias Thönnissen, Zarah Schrade

Regie: Matthias Thönnissen, Zarah Schrade

EA: 28.09.2023 10:00 Uhr | ZDF-Mediathek

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