Die Dystopie dauert im Grunde nur fünf Minuten, bis zum Ende des Vorspanns. Danach erzählt der Film „Aufbruch ins Ungewisse“ zwar von einer fiktiven Zukunft, die aber exakt der Gegenwart gleicht, nur unter umgekehrten Vorzeichen: Mitteleuropäer fliehen und begehren Asyl in afrikanischen Ländern. Eine deutsche Familie strandet mit anderen Flüchtlingen im Schlauchboot vor der Küste Namibias. Anwalt Jan Schneider (Fabian Busch), Lehrerin Sarah (Maria Simon) und Tochter Nora (Athena Strates) können sich vor dem Ertrinken retten, von dem siebenjährigen Nick (Ben Gertz) jedoch fehlt jede Spur. In bedrückender Sorge um ihren Sohn und Bruder erleben sie nun all das, womit Menschen heutzutage konfrontiert sind, wenn sie vor den Verhältnissen in der Heimat fliehen und auf Aufnahme in einem sicheren Land hoffen. Schlepper, die ihre Not ausnutzen. Die Furcht, gleich wieder abgeschoben zu werden. Ein karges, eintöniges Dasein in Flüchtlingscamps hinter Stacheldraht. Unfreundliche Bürokraten. Fremdenfeindlichkeit.
Afrikaner mal nicht als Notleidende, sondern als Retter
Beispielhaft die beklemmende Szene am Strand. Das sind Bilder, die wir Zuschauer seit Jahren etwa aus den Berichten von Lampedusa kennen: Die noch nicht geborgenen und die bereits abgedeckten Leichen. Die vielen am Strand verteilten Gepäck- und Kleidungsstücke. Die Helfer, die sich um die Überlebenden kümmern. Was geschieht dabei durch die Umkehrung der Herkunft von Flüchtenden und Aufnehmenden? Die Macher wollen mit dem Film zum einen Empathie wecken, zum anderen an die Fragilität der politischen Verhältnisse erinnern. Beides gelingt nur in Maßen. Der Perspektivenwechsel hat zwar den interessanten und positiven Effekt, dass Afrikaner hier mal nicht die Notleidenden sind, die gerettet werden müssen, sondern selbst die Retter – und auch die erbarmungslosen Schlepper, peniblen Bürokraten oder freundlichen Flüchtlingshelfer. Die Darstellung ist aber derart genau der gegenwärtigen Realität abgeschaut, dass die pädagogische Absicht leicht zu erkennen ist. Und wieso sollte es eigentlich stimmen, dass eine solche Geschichte das Publikum mehr berührt, wenn es sich um eine weiße, deutsche Familie handelt? Ist dies nicht eine zynische Unterstellung? Können nicht eine starke Geschichte mit lebendigen Figuren ausreichend Mitgefühl erzeugen, ganz unabhängig von Herkunft und Hautfarbe? Bei allem Wohlwollen für die gute Absicht: Es bleibt ein Beigeschmack.
„Es besteht ja die Gefahr, dass man angesichts der Flut immer gleicher Bilder zu diesem Thema irgendwann abstumpft. Wir wollten deshalb ein Einzelschicksal beschreiben und eine emotionale Identifikation mit den Flüchtlingen ermöglichen. Damit standen wir vor der Frage: Wie schaffen wir es, dass die Leute überhaupt zuschauen bei all den vielen Nachrichten und Berichten zu diesem Thema? Und so entstand die grandiose und provokante Idee, ein Boot mit Europäern auf die afrikanische Küste zusteuern zu lassen.“ (Produzentin Kirsten Hager)
Verhaftete Journalisten und ein Kanzler als George-Orwell-Zitat
Die Botschaft des Films beinhaltet außerdem die Warnung: Uns kann es auch treffen. Die dystopische Grund-Annahme wird allerdings nicht ausbuchstabiert, sondern im Wesentlichen per Einblendung zu Beginn des Films mitgeteilt. Europa sei im Chaos versunken, heißt es da. Rechtsextreme hätten in vielen Ländern die Macht übernommen. In nur wenigen Szenen wird die gesellschaftliche Zukunftsvision skizziert. Die Nachrichtenbilder von verhafteten Journalisten erinnern an die gegenwärtigen Verhältnisse in der Türkei. Das riesige Konterfei von Kanzler Meyer auf der Hauswand wirkt wie ein Zitat von George Orwells „1984“. In seiner Rede klingt er wie Björn Hocke, der sich zum Herrscher aufgeschwungen hat und nun seine Gegner verhöhnt, weil die ihn so lange unterschätzt haben.
Zeitlicher Sprung von Deutschland ins Schlauchboot vor Afrika
„Aufbruch ins Ungewisse“ ist in erster Linie ein Familiendrama. Die Zukunft erleben wir zu einem nicht genau definierten Zeitpunkt an der Seite einer demokratisch gesinnten, bildungsbürgerlichen Familie. Dass die politische Entwicklung in den Jahren davor nicht im Detail nachvollzogen wird, in Deutschland wie in Afrika, ist dramaturgisch konsequent, aber auch die Geschichte der Familie in Deutschland wird nur kurz angerissen. Jan kommt mit einer blutenden Kopfwunde nach Hause. Er sei einer Bürgerbrigade in die Quere gekommen, sei denunziert worden, müsse weg. „Die Verhaftungen gehen heute Nacht schon los.“ Er will vorausfahren, dann die Familie nachholen, doch seine Frau Sarah dringt darauf, nicht in diesem diktatorischen Deutschland zurückgelassen zu werden. Schnell werden die Sachen gepackt, wobei Nora nur widerwillig mitkommt. Nach dem nächsten Schnitt sieht man die Familie bereits erschöpft und blass in dem Schlauchboot vor Afrikas Küste. Das ist doch ein bisschen dünn. Zwar werden die Verhältnisse in Deutschland – willkürliche Verhaftungen, die Verfolgung von Homosexuellen, die mehrfache Vergewaltigung einer regierungskritischen Bloggerin – später durch verschiedene Figuren im Flüchtlingscamp ins Spiel gebracht. Fern bleibt dieses dystopische Deutschland dennoch. Und da allein Nora noch den Kontakt zu ihren Freundinnen vermisst, ihre Eltern aber seltsamer Weise mit niemandem mehr verbunden zu sein scheinen, ist Deutschland eher eine konstruierte Drohkulisse als ein glaubhaftes Szenario.
„Darf man das: die Rollen einfach umzudrehen und sich das Leid der Flüchtlinge gewissermaßen anzueignen. Ob es denn richtig ist, sich all dieser Bilder zu bedienen, die wir in den Nachrichten täglich sehen, und einen fiktionalen Film daraus zu machen. Diese Fragen habe ich bis zum Ende der Dreharbeiten mit mir herumgetragen. Jetzt ist der Film ja mittlerweile auf mehreren Festivals gelaufen, und wir haben die Zuschauerreaktion mitbekommen. Und spätestens da wurde mir klar: Das darf man nicht nur, das muss man machen.“ (Fabian Busch)
Familiäre Konflikte in geschlossenen Räumen
Im namibischen Camp angekommen, drückt sich die Familie vor der Registrierung, denn die Regierung hat Deutschland gerade als sicheres Herkunftsland eingestuft. Somit droht die sofortige Abschiebung. Bevor Jan, Sarah, Nora und andere von Schleppern illegal über die Grenze nach Südafrika gebracht werden, lässt sich die Mutter aber doch registrieren, in der Hoffnung, den Beamten zur Suche nach Nick bewegen zu können. Damit setzt sie allerdings die Möglichkeit aufs Spiel, Asyl in Südafrika zu erhalten – all das darf man als kritischen Verweis auf die gegenwärtige Flüchtlingspolitik verstehen. Es macht den Film zwar etwas vorhersehbar, dass die Dystopie so offenkundig das Heute spiegelt. Aber eine berührende Geschichte über eine Familie auf der Flucht wird es doch. Überzeugend erzählt werden die familiären Konflikte, die gegenseitigen Schuldzuweisungen, die Verzweiflung über den möglichen Verlust des Sohnes und auch die Wut Noras, die ihr altes Leben vermisst und die sich von den Eltern nach Nicks Verschwinden vernachlässigt fühlt. Nicks ungewisses Schicksal bestimmt alles und sorgt für eine Art Grund-Spannung. Deutlich wird vor allem das Ausgeliefertsein, die Protagonisten sind keine Handelnden im Sinne herkömmlicher Familien-Dramen. Ihr Spielraum ist buchstäblich begrenzt. Das gilt in extremen Situationen wie in dem verschlossenen Lastwagen auf der letzten Etappe nach Südafrika, in dem die Flüchtenden zusammengepfercht sind und wo sich ohne Frischluft und Wasser langsam Panik ausbreitet.
Der Film entlässt die Zuschauer nicht ohne Hoffnung
Das gilt aber auch für das alltägliche Leben im Camp, dem über weite Strecken eigentlichen Handlungsort, an dem sie täglich zu essen bekommen, die Gemeinschaftsduschen benutzen dürfen, aber ansonsten zum Warten und Nichtstun verdammt sind. Szenenbild, Kamera und Regie ist es gelungen, dieses Aufnahmelager bei den Dreharbeiten in Südafrika „lebendig“ und authentisch wirkend in Szene zu setzen. Hinzu kommt: Wer nicht Deutsch spricht, wird in der Regel untertitelt, nicht wie sonst oft synchronisiert. Maria Simon und Fabian Busch spielen Figuren im Wartestand. Die Eltern, die sich am liebsten auf die Suche nach ihrem Kind begeben wollen, sind eingeschlossen und von Entscheidungen höherer Mächte abhängig. Wie gelähmt und in sich gekehrt wirkt die Mutter, ruhelos und mit seinem Gewissen ringend der Vater. Nora wird von den Freundinnen in den sozialen Netzwerken geblockt, wird nun aber aktiv, sucht Anschluss an andere Jugendliche, die das Camp heimlich verlassen und in einer Villa Party machen. Auch Nicks Schicksal wird am Ende enthüllt – der Film entlässt die Zuschauer nicht ohne Hoffnung für die Familie Schneider. Ihr fiktives Schicksal ist individuell und allgemeingültig zugleich, denn die Dystopie des Films ist bereits Realität.