Auf der Straße

Christiane Hörbiger, Broich, Näter, Baxmeyer. Ausflug in eine unschöne Parallelwelt

Foto: Degeto / Svenja von Schultzendorff
Foto Rainer Tittelbach

Dieser Alptraum ist real: eine Frau, die ihr Leben 75 Jahre lang im Griff gehabt hat, plötzlich obdachlos, verschuldet, verzweifelt, ganz unten. In dem ARD-Fernsehfilm „Auf der Straße“ verkörpert ausgerechnet Christiane Hörbiger, bei vielen noch als Grande Dame in den Köpfen, jene Frau, die in die soziale Abwärtsspirale gerät. Nach Alkoholismus, Alzheimer und Altersarmut/Toleranz bleibt die Österreicherin dem Themenfilm treu. Mag die Realität auch komplexer sein und bevorzugt der moderne Film andere Realismuskonzepte, so hat doch eine solche Geschichte in einer solchen eher altmodischen Dramaturgie nach wie vor ihre Berechtigung. Die älteren Zuschauer werden es der ARD und Hörbiger danken.

Eine Mittelstandsrentnerin im freien Fall
Niemals hätte sie sich das träumen lassen: sie, Hanna Berger, die ihr Leben 75 Jahre lang im Griff gehabt hat, plötzlich obdachlos, verschuldet, verzweifelt, ganz unten. Ohne dass sie es wusste, basierte ihr Lebensabend schon länger auf Pump. Jetzt ist die Kreditblase geplatzt, ihr Mann erlag einem Herzschlag und sie ist hoch verschuldet. Ihre Wohnung wird verpfändet – und so steht die alte Frau von einem auf den anderen Tag auf der Straße – mit einem Koffer und dem unbedingten Willen und der Gewissheit, aus der misslichen Lage wieder herauszukommen. „Ich bin keine Invalidin; ich kann mir Arbeit suchen und eine billige Wohnung“, glaubt sie. Die Realität sieht anders aus. Wer stellt eine 75-Jährige ein? Und wenn doch, dann lauert die nächste Falle: Ohne festen Wohnsitz und ohne Konto keine Arbeit und ohne Arbeit keine Wohnung und kein Geld. Die Lebensmaximen von Hannas Generation greifen offenbar nicht mehr. Es ist besonders ihr Stolz, der sie ins soziale Abseits befördert. Um Sozialleistungen erhalten zu können, müsste auch ihre Tochter herangezogen werden. Weil Hanna das aber auf keinen Fall will, muss sie altersstarr den Weg gehen, den sie offenbar gehen muss, um irgendwann vielleicht doch über ihren Schatten springen zu können.

Von der Grande Dame zur Themenfilm-Ikone
In dem ARD-Fernsehfilm „Auf der Straße“ verkörpert ausgerechnet Christiane Hörbiger diese Frau, die in die soziale Abwärtsspirale gerät. Die österreichische Schauspielerin, die im Zuge der „Guldenburgs“ jahrelang im Rollenfach (vor allem aber im Image) der Grande Dame zuhause war, tritt als Hanna Berger die Reise in die gesellschaftlichen Niederungen an. In der ersten Szene des Films steckt sie einer Obdachlosen im Vorbeigehen noch ihr Wechselgeld zu, wenig später hält sie selbst die Hand auf. Sie hat es anders versucht – beim Sozialamt, mit Arbeitssuche, im Nachtasyl für Frauen, bei der Armenspeisung. Irgendwann gibt sie auf, verliert im Kampf ums nackte Überleben ihre Würde, sammelt Flaschen, greift Essensreste von Tellern, beginnt zu trinken und landet unter den Brücken Hamburgs. Mit dieser Rolle führen Hörbiger, Produzent Markus Trebitsch, Drehbuchautor Thorsten Näter und Florian Baxmeyer für die ARD Degeto das fort, was sie mit ihren sozialkritischen „Problemfilmen“ wie „Stiller Abschied“ (Alzheimer), „Wie ein Licht in der Nacht“ (Alkoholismus) oder „Bis zum Ende der Welt“ (Toleranz) 2011 erfolgreich begonnen haben. Für die große Christiane Hörbiger eine ideale Möglichkeit, in vergleichbar kleinen, auf ein Thema fokussierten Filmen und anspruchsvollen Charakterfach-Hauptrollen auf dem Bildschirm in Würde zu altern.

Auf der StraßeFoto: Degeto / Svenja von Schultzendorff
Mittelschicht-Existenz und falscher Stolz: Hanna Berger (Christiane Hörbiger)

Die wirkungsvollen Tricks des Drehbuchautors
Wie die Vorgängerfilme setzt auch Autor Näter in „Auf der Straße“ auf die Chronologie der Ereignisse. Alles kommt, wie es kommen muss – der soziale Abstieg, aber auch die mögliche Lösung ist selbstredend in der Geschichte verankert und wird früh angedeutet. Näter wollte gern die Fallhöhe der Dame aus dem Mittelstand für die Handlung mitnehmen; dabei sind der Stolz und das Gefühl, etwas Besseres zu sein, durchaus nachvollziehbare psychologische Dispositionen der Heldin. In der Realität käme an dieser Stelle das Sozialamt ins Spiel. Das muss Näter aushebeln mit einer Mutter-Tochter-Geschichte, die gleichsam als offene Frage die Dramaturgie mitbestimmt. Nach und nach gewähren Tochter („Meine Mutter wollte mich nicht – nie“) und Mutter („Ich hab’ alles falsch gemacht“), jeder für sich und angenehm beiläufig, Einblick in ihr Seelenleben und weihen den Zuschauer ein in das Problem, das zwischen Mutter und Tochter seit jeher existiert, ohne dass Näter und Regisseur Baxmeyer daraus ein übergroßes Drama machen würden. Im Rahmen dieser klassischen, für jüngere Zuschauer (die nicht zur Zielgruppe gehören dürften) etwas altmodischen Themenfilm-Dramaturgie ist die Story von „Auf der Straße“ ebenso clever wie durchsichtig geplottet.

Vielleicht altmodisch, aber ziel(gruppen)führend
Man spürt, dass die Geschichte ein konstruierter Einzelfall ist. Dem Zuschauer wird etwas „vorgeführt“; er wird mitgenommen in eine ihm fremde Welt, die allerdings mit einem bürgerlichen Rettungsanker versehen wird. Ohne diesen Rettungsanker, der die soziale Problematik deutlich Degeto-gerecht abfedert, und ohne Christiane Hörbiger als Zugpferd wäre dieses Thema heutzutage wohl kaum mehr als Drama (allenfalls noch als Hintergrundgeschichte in einem Krimi) Primetime-tauglich. Das ist schade. Obgleich diesem auch in den Nebenrollen bestens besetzten Film die eine oder andere Überraschung gut getan hätte, gehören solche Ausflüge in die soziale Wirklichkeit immer weniger zum heutigen Fernsehfilmalltag. Auch das ist schade. Mag die Realität sehr viel komplexer sein und bevorzugt der moderne Film andere Realismuskonzepte, so hat doch eine solche Geschichte in einer solchen Erzählweise nach wie vor ihre Berechtigung. Die älteren Zuschauer werden es der ARD & Christiane Hörbiger danken. Und vielleicht wird sich auch der eine oder andere das nächste Mal nicht abwenden, wenn jemand ihn auf der Straße anbettelt. Vielleicht wird er die individuellen Geschichten hinter den Gesichtern suchen und etwas weniger genervt sein.

Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von YouTube. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.

Mehr Informationen

tittelbach.tv ist mir was wert

Mit Ihrem Beitrag sorgen Sie dafür, dass tittelbach.tv kostenfrei bleibt!

Kaufen bei

und tittelbach.tv unterstützen!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Fernsehfilm

ARD Degeto

Mit Christiane Hörbiger, Margarita Broich, Dirk Borchardt, Nadine Boske, Gundi Ellert, Amber Marie Bongard, Günter Junghans

Kamera: Wedigo von Schultzendorff

Szenenbild: Hans Zillmann

Schnitt: Ueli Christen

Produktionsfirma: Aspekt Telefilm

Produktion: Markus Trebitsch

Drehbuch: Thorsten Näter

Regie: Florian Baxmeyer

Quote: 4,48 Mio. Zuschauer (13,8% MA)

EA: 15.10.2015 20:15 Uhr | ARD

Spenden über:

IBAN: DE59 3804 0007 0129 9403 00
BIC: COBADEFFXXX

Kontoinhaber: Rainer Tittelbach