Fußballtalent Momo Kaval (Koder Xidir Alian) ist 19. Den Profivertrag fast in der Tasche, stoßen ihn die kriminellen Geschäfte seines Onkels Amar (Stipe Erceg) ins Aus. Ein Spiel mit gezinkten Karten. Momos Familie erwischt es eiskalt. Bisher konnte sich die verwitwete Amila Kaval (Jasmin Tabatabai) dem Zugriff ihres Schwagers entziehen. Für ihre Söhne will sie das beste beider Welten: Ein Leben in Deutschland mit den Werten, die ihrer Herkunft entsprechen. Nach diesen Werten muss der kleinere Bruder auf den größeren hören, redet eine Mutter ihrem Kind mit „mein Sohn“ ins Gewissen. Das ist erstmal kein Problem, eher die liebevolle Erziehung einer Frau, die weiß, wie schnell die Dinge aus dem Ruder laufen können. Dieser Moment ist jetzt. In Minute vier der Auftaktfolge von „Asbest“ erfolgt der Zugriff. Verzweifelte Gesichter, keine Worte mehr, orientalische Klänge legen sich über das gewaltsame Eindringen der Einsatztruppe. Für eine Tat, die er nicht begangen hat, wird Momo zu neun Jahren Haft verurteilt. Im feinen Anzug und mit Tränen im Gesicht betritt er seine Zelle. Alle, denen Momo bisher aus dem Weg gegangen ist, scheinen hinter den grauen Gefängnismauern der JVA-Tegel auf ihn zu warten. Zu dem Zerwürfnis zwischen Amar und seiner Schwägerin kommen die Fehden zwischen libanesischen und albanischen Clans, die Rachepläne eines Berliner Luden und geheime Deals, durch die Häftlinge wie Personal in die Knast-Hierarchie verstrickt sind. Nach dem ersten Schock beginnt der stille Außenseiter zu sondieren. Klar ist: Um hier rauszukommen, muss er die Gesetze der anderen für sich nutzen.
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Gesetze nutzen heißt Gesetze verstehen. Damit der Zuschauer alles versteht, füttern im Fortgang der Geschichte einige Rückblenden auf das Berlin Ende der 90er die Story. Sie erklären, wann die Wut in Amar in blanken Hass umschlug und warum Barbesitzer Henry Wetzel (Wotan Wilke Möhring) um Momos Vertrauen wirbt. Amars und Henrys Last gründet auf den Geschichten ungleicher Brüder. Motor und Motiv ihres Verhaltens ist die Wut und die Trauer um den Verlust eines echten Bruders in einer Welt, in der jeder den anderen Bruder nennt. So inflationär wie in Filmen und Serien der jüngsten Zeit alle dauernd „fuck“ schreien, so verlässlich durchzieht das mal verschwörerische, mal als Drohung ausgesprochene Wort Bruder jetzt den Text. Die Verbrüderung unter Ungleichen bildet den Soundteppich für die Solisten. Stipe Erceg und Wotan Wilke Möhring verleihen den Einzelkämpfern Amar und Henry ein jeweils ganz eigenes Charisma. Erceg gibt den Lässigen und flirrt innerlich vor hitziger Nervosität. Sichtbar wird das in kurzen Seitenblicken oder dem Zucken einer Sehne. Wotan Wilke Möhring legt eine schlaue Bösartigkeit an den Tag, kläfft manche Sätze wie ein Hund heraus und macht so sehr viel mehr Spaß als ein Kommissar, der mit Händen in den Taschen an den „Tatort“ kommt. Ohne eine Ausleuchtung ihrer Vergangenheit überzeugen auch Anatole Taubman in der Rolle eines korrupten, wunderbar fiesen Schließers und Jan Georg Schütte als ausgezehrter Ermittler. Schütte, äußerlich so grau als wäre er tatsächlich von Asbestose befallen, setzt in Verhören, vertrauten Gesprächen oder bei Polizeieinsätzen auf die große Show. Vom kurzen Naserümpfen (Verachtung oder Koks?) bis zur raumgreifenden Performance im ersten Verhör mit Momo ein sehenswertes Schauspiel. In kürzeren Auftritten empfiehlt sich Regisseur Ramadan als einäugiger Kurdenboss, Claudia Michelsen in der Rolle der tablettenabhängigen JVA-Chefin und Ludwig Trepte als Chef einer Küchenbrigade, dessen kriminelle Energie so groß ist wie er selbst klein. Ergänzt wird das Ensemble durch Figuren, die die Knast-Hierarchie wie Satelliten umkreisen. Frederick Lau als Psycho, den die Drogen ins Paralleluniversum verbannt haben, Nicolette Krebitz in der Rolle der auf Distanz bedachten Gefängnistherapeutin, Uwe Preuss, der als Trainer der JVA-Fußballmannschaft das Unmögliche versucht und Detlev Buck, der als politisch Gefangener aus den Achtzigern jenseits von Gut und Böse wie ein Yeti aus versunkenen Tagen auf das Leid von Heute schaut.
Foto: Degeto / Simon Dat Vu (Repro)
Das alles ist imposant anzuschauen, birgt aber die Gefahr, die eigentlichen Handlungsträger und damit die einzigen, die sich in dieser Geschichte entwickeln, aus dem Blick zu verlieren. Das sind Momo, der sich hinter Gittern zum Gangster und Agent in eigener Sache wandelt, und seine Freundin Daniela, die sich in Freiheit alle Freiheiten nimmt. Lulu Hacke verkörpert eine junge Frau, die sich weder dem Schicksal einer Knastbraut noch dem langweiligen Leben an der Leine ihres wohlhabenden Vaters (Christian Kahrmann) ergeben will. Dabei verkennt sie das Risiko, sich mit den großen Tieren der Unterwelt anzulegen. Während Hacke in verschiedenen Szenerien und durch einen sich wandelnden Kleidungsstil vom Anhängsel zur Agierenden wird, muss Koder Xidir Alian in seinem Schauspiel-Debüt Veränderungen allein durch Mimik und Körperhaltung rüberbringen. Egal, ob sein Ausdruck das Gegenüber spiegelt oder etwas über sein Inneres verrät – eine schwere Aufgabe. Im Vergleich zu mancher Nebenfigur eher blass, entspricht dieser Momo damit gleichzeitig der Vorgabe: Er bleibt ein Außenseiter und könnte am ehesten von allen hier Auftretenden jeder junge Mann in einem ähnlichen Dilemma sein.
Kida Khodr Ramadan, der als Hauptdarsteller der aufregenden Serie „4 Blocks“ (3 Staffeln, 2017-2019) Berliner Clan-Geschichte salonfähig gemacht hat, drehte „Asbest“ nach einer Idee von Katja Eichinger. Auf überbordende Gewaltdarstellungen verzichtend, konzentriert sich der Blick hinter Gefängnismauern auf die vermeintlichen Mechanismen, nach denen das Leben hinter Gittern funktioniert. Helden werden hier nicht geboren, an Mythen glauben nur die Schwachen, Veränderung oder Verweigerung wird abgestraft. Gerade weil so prominent besetzt, schaut der Zuschauer aber eher auf Typen drauf, als mit der Hauptperson mitzugehen. „4 Blocks“ hat in Sachen „Street-Credibility“ die Latte hochgelegt. „Asbest“ kommt da nicht ganz dran. Der Knast ist kein Hauptdarsteller so wie Berlin es war, manche bekannte Schauspiel-Größe wirkt in Gefängniskleidung eben eher verkleidet als authentisch. Die Serie lebt von der Faszination der Clan-Kriminalität, kritisiert ihre Gesetze und feiert zugleich Bestandteile einer Kultur, die gern mit ihr in Verbindung gebracht werden. Nur logisch, dass der Soundtrack den schleppenden Rap von Veysel Gelin (debütierte „4 Blocks“ als Abbas Hamadi und gehört jetzt als rechte Hand von Clanchef Amar zum Cast) mit orientalischen (Klage-)Gesängen mixt. Der 20-jährige Hauptdarsteller Koder Alian rapt etwa zwanzigmal schneller als Gelin und ist in der Community als Xidir inzwischen eine feste Größe. Sound und Herzschlag von „Asbest“ werden stimmig und mit einer heiligen Ernsthaftigkeit serviert. Ironie blitzt am ehesten dort auf, wo die Serie den großen Mafia-Dramen von einst Referenz erweist. Der Junge, der damals mit leuchtenden Augen die Paten bewunderte, ist hier ein offensichtlich schwer gelangweilter Coach-Potato, der den Fahrradboten routiniert die Drogenpäckchen zusteckt. (Text-Stand: 16.12.2022)