Arnes Nachlass

Max Hegewald, Fedder, Thorsten Schmidt, Kurzawa, Lenz. Aus der Zeit gefallen...

Foto: NDR / Hannes Hubach
Foto Rainer Tittelbach

„Arnes Nachlass“ erzählt die tragisch-melancholische Geschichte eines traumatisierten Teenagers. Blick-Talent Max Hegewald („Keine Angst“) ist das Gesicht, Jan Fedder die Stimme des Films. Bei aller Schwere des in die Jetztzeit transportierten, stimmig modernisierten Stoffs, die sich in surrealem Dämmerlicht und stimmungsvollen Hafen-Bildern spiegelt, besitzt die Erzählweise etwas Beiläufiges, fast Lapidares, auch wenn der Todesengel immer wieder über den Bildern schwebt. Kein Motiv wirkt überstrapaziert, kein Symbol ist zu bedeutungsträchtig. Diese LiteraturverFILMung lebt durch ihre große Sinnlichkeit!

Arne ist anders als die Anderen. Der 16-Jährige musste mit ansehen, wie sein verzweifelter Vater sich und seine Liebsten vergiftet hat. Durch Zufall hat Arne als einziger überlebt. Er ist traumatisiert, er fühlt sich schuldig, sein Glauben an die Gemeinschaft ist erschüttert, aber es besteht Hoffnung, dass der Junge wieder auf die Beine kommt: Harald, der beste Freund von Arnes Vater, Betreiber einer Abwrackwerft im Hamburger Hafen, nimmt ihn als Pflegekind in seiner Familie auf. Haralds Kinder Hans, Wiebke und Lars gehen indes nicht sehr feinfühlig mit dem sensiblen Jungen um. Arne würde gern dazu gehören, entwickelt sich aber mehr und mehr zum Außenseiter. Allein die sprunghafte Wiebke, selbst ein schwieriger Teenager, schenkt ihm gelegentlich etwas Aufmerksamkeit. Als die beiden Vertrauen zueinander fassen, könnte alles gut werden. Doch das Trauma holt den Jungen wieder ein, einiges läuft aus dem Ruder – und plötzlich glaubt Arne, alle aus seiner neuen Familie gegen sich zu haben.

Arnes NachlassFoto: NDR / Hannes Hubach
Wie ein Untoter kehrt Arne (Max Hegewald) in die Welt der Lebenden zurück. Aber gehört er denn noch dazu? Alle Menschen, die er liebt, sind nicht mehr am Leben.

„Arnes Nachlass“ erzählt die tragische Geschichte eines Sonderlings als ein poetisches Psychogramm eines traumatisierten Teenagers. Max Hegewald („Keine Angst“) ist das Gesicht des Films. Der 22-Jährige mit dem Zeug zum großen Blick-Schauspieler gibt der Titelfigur von der ersten – schrecklichen – Szene an eine morbide Undurchschaubarkeit. Wie ein Untoter wird sein Arne auf die Menschheit, eine ganz normale Familie, losgelassen. Man weiß nicht, was sich versteckt hinter der freundlichen Bescheidenheit, den Angstzuständen, und ob er nicht sogar eine Gefahr sein kann – für die anderen oder für sich selbst! Jan Fedder, der in dieser vierten und besten Siegfried-Lenz-Verfilmung der Aspekt Telefilm erstmals in die zweite Reihe rückt, ist die Stimme des Films. Sein Harald ist zugleich – anders als im Roman – der Erzähler dieses auch als Literaturverfilmung vorbildlichen TV-Dramas. Eindringlich sein Bass, knorrig die Stimme, melancholisch die Worte. Aber auch die anderen Schauspieler fügen sich in die stimmige Gesamtkomposition des Films ein. Bei aller Schwere des in die Jetztzeit transportierten, stimmig modernisierten Stoffs, die sich in nuanciertem, surrealem Dämmerlicht und stimmungsvollen (teilweise digital bearbeiteten) Hafen-Tableaux spiegelt, besitzt die Erzählweise des Films etwas Beiläufiges, fast Lapidares, auch wenn der Todesengel immer wieder über den Bildern schwebt. Kein Motiv der Geschichte wirkt überstrapaziert. Selbst das Verliebtsein, das bei einer Problemzicke wie Wiebke nur unglücklich enden kann, ein Standardelement dramatischer Coming-of-age-Geschichten, besitzt hier so gar nichts Abgegriffenes. Sicher, weil dieser Arne anders ist, weil ihn seine ganz spezielle Art antreibt. „Wenn er ihr aufs Zimmer folgt, um zu fühlen, ob sie Fieber hat, dann geschieht dies aus wahrhaftiger Sorge um ihre Gesundheit – und nicht um ihr an die Wäsche zu gehen“, betont Regisseur Thorsten Schmidt. Aber auch das „unerreichbare Mädchen“ spielt Franziska Brandmeier („Schimanski – Loverboy“) so uneindeutig, dass eine existentielle statt einer amourös-erotischen Spannung über den Szenen des „Pärchens“ liegt.

Lothar Kurzawa über das Motiv des Abwrackens:
„Es ist ein Symbol für den Verfall, und es steht zugleich für die Hoffnung, dass aus dem Alten etwas Neues entstehen kann. Dieses Motiv findet sich auch bei Arne wieder, insofern, als er in der neuen Familie die Hoffnung hegt, die grauenhaften Erlebnisse verarbeiten zu können.“

Markus Trebitsch über den Lenzschen Kosmos:
„Wenn auch Personal und Schauplatz aus einer anderen Zeit stammen, die Romane selber sind zeitlos. Lenz hat seine Erzählung in ein bestimmtes Zeitfenster platziert, nimmt man sie dort heraus, verliert sie nichts an Gültigkeit. Die Abwrackwerft ist seine Theaterbühne.“

Auch die literarischen Motive der Vorlage, die Abwrackwerft zum Beispiel, die nicht ohne Grund im Film zu einer Abwrack- und Reparaturwerft wird, wirken nie bedeutungsvoll ausgestellt, sondern werden zu hoch sinnlichen Metaphern. Auch symbolhafte Gegenstände bekommen nichts übermäßig Bedeutungsträchtiges, sondern geben dem Film vielmehr eine poetische Dichte, wie man sie nur noch selten sieht im deutschen (Krimi-)Fernsehen. Ein romantisches Geschenk, ein Erinnerungsstück an glücklichere Zeiten, ist zerbrochen. „Glaubst du, man kann es wieder reparieren?“, fragt Wiebke, auf einmal gar nicht mehr so cool. „Ich glaube nicht“, antwortet Arne. Auch die eigene Seele scheint zu sehr verletzt worden zu sein. Da ist nichts mehr mit Reparieren. Arnes Erbe – das ist ein nachhaltiges Gefühl bei den Hinterbliebenen: das Gefühl des Scheiterns, der Schuld, des Schmerzes. Die Hinterlassenschaft für den Zuschauer sieht ähnlich aus: „Arnes Nachlass“, ein Film, der einen lange Zeit zum mitfühlenden Beobachter macht, gibt auch nach 85 Minuten seine Distanz zum Geschehen nicht auf. Dennoch gelingt es in den Schlussminuten, den Zuschauer tief und wahrhaftig zu berühren. Auch das eine Kostbarkeit, die in dieser Form, in einem Genre, das sich Zeit lässt, selten geworden ist. Nicht nur dieser Arne ist aus der Zeit gefallen.

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Fernsehfilm

NDR

Mit Max Hegewald, Jan Fedder, Franziska Brandmeier, Suzanne von Borsody, Dennis Mojen, Sven Gielnik, Kari Väänänen, Sebastian Husak

Kamera: Hannes Hubach

Szenenbild: Hans Zillmann

Schnitt: Regina Bärtschi

Produktionsfirma: Aspekt Telefilm

Produktion: Markus Trebitsch

Drehbuch: Lothar Kurzawa – nach dem Roman von Siegfried Lenz

Regie: Thorsten Schmidt

Quote: 4,65 Mio. Zuschauer (14,8% MA)

EA: 13.11.2013 20:15 Uhr | ARD

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