Belinda stammt aus einer armenischen Familie in Köln, studiert Sprachwissenschaften und will mit ihrem Freund Manuel zusammenziehen. Ein wirkliches Ziel scheint sie jedoch nicht zu haben. Weder treibt sie das Studium voran, noch mag sie Manuel den Eltern vorstellen. Bei den Familientreffen wiederum fühlt sie sich unwohl – Belinda lebt offenbar in zwei getrennten, ihr ähnlich fremden Welten. Auch den Vater habe sie „kaum gekannt“, sagt sie nach dessen Tod. Ihr Interesse an der Geschichte der Eltern wird jedoch geweckt, als sie mit Hilfe des Onkels Hinterbliebenenrente beantragen will. Zudem beginnt Belinda, als Näherin in der Änderungsschneiderei ihrer Tante zu arbeiten. So wie sie sich nun ihrer Familie und deren Geschichte und Traditionen annähert, so entfernt sie sich von ihrem deutschen Freund.
„Anduni“ bedeutet „heimatlos“, Anduni-Lieder erzählen vom Schicksal der armenischen Auswanderer, die insbesondere während des Genozids durch die Türkei (1915-17) vor der Verfolgung fliehen mussten. Um das Gefühl der Heimatlosigkeit geht es auch in diesem bemerkenswerten Kinodebüt von Samira Radsi, die zuvor Erfahrungen bei Fernseh-Serien wie GZSZ oder „Notruf Hafenkante“ sammeln konnte. Das Drehbuch schrieb Karin Kaçi, eine Tochter armenischer Einwanderer aus der Türkei. Der Clash der Kulturen ist hier um das Konfliktfeld Religion entschärft, denn Armenier sind fast ausschließlich Christen. Ohnehin spielen Konflikte im Zusammenleben mit Deutschen eine untergeordnete Rolle, es geht in dieser WDR-Kinokoproduktion eher um die Suche nach der eigenen Identität.
Foto: WDR / Filmlichter
Dennoch hat man zu Beginn den Eindruck, „Anduni“ sei ein weiteres Beispiel für das Genre Multi-Kulti-Komödie. Bizarre Szenen – der Fernseher springt automatisch an, während der tote Vater auf dem Sofa liegt – sowie die turbulente Beerdigungsfeier, bei der die eifrige Tante Arsine Belinda unbedingt verkuppeln will und der kauzige Onkel Levon lieber rauchend vor der Tür sitzt („Da drin kriegst du Kopfschmerzen“), schlagen erst einmal einen leichten Ton an. Die Eigenheiten der Figuren werden immer mal wieder mit Humor aufs Korn genommen, doch zunehmend treten die ernsten und leisen Momente in den Vordergrund. Viele Szenen im Halbdunkel, die poetische Bildsprache von Matthias Fleischer („Das Lied in mir“) sowie die sanfte Musik von Dürbeck & Dohmen erzeugen eine melancholische Stimmung. Die Liebe zwischen Belinda und Manuel wird brüchig, und es wird immer klarer, dass sich hinter den Lebensgeschichten der einzelnen Figuren die Tragödie eines Lebens im Exil verbirgt.
Wie etwa bei Onkel Levon, eine Rolle, die mit Tilo Prückner wunderbar besetzt ist: Levon nervt die Familie mit seiner Bewunderung für alles Deutsche, am Ende nimmt er gar eine Maggi-Flasche mit nach Armenien. Aber als er mit Belinda an seinen ehemaligen Arbeitsplatz zurückkehrt, ist seine Außenseiterrolle in Deutschland schmerzhaft zu spüren. Manchmal ist der Humor auch etwas plumper, wie im Kurzauftritt von Peter Millowitsch, der das Einfühlungsvermögen eines kölschen Beamten vorführt: „Meine Frau ist auch nicht von hier. Die hat’s auch nicht leicht. Die ist aus Detmold.“ Rheinisch-westfälische Folklore, geschenkt.
Die Besetzung mit Irina Potapenko („Mörder auf Amrum“) und Florian Lukas in den Hauptrollen von Belinda und Manuel ist glänzend, wobei der Handlungsstrang der Liebesgeschichte bisweilen etwas gestreckt erscheint. Umso mehr überzeugt die reife Auseinandersetzung mit dem Grundthema Heimatlosigkeit, die ebenso Allgemeingültigkeit besitzt wie im speziellen auf die armenische Geschichte verweist. Belindas Vater suchte den „Ort, der verbindet, was nicht verbunden ist“. Ein Sehnsuchts-Ort wie der Berg Ararat, das Nationalsymbol der Armenier, das heute auf dem Gebiet der Türkei liegt. Hier ist der Ararat eine schöne, symbolträchtige Kulisse für ein optimistisches Ende. (Text-Stand: 13.7.2013)