Noa (Neta Riskin), eine israelische Stipendiatin in Berlin, arbeitet an einem „Wörterbuch für unübersetzbare Wörter“. Ihre schöne, paradox anmutende Idee wird jedoch als Forschungsprojekt abgelehnt. Außerdem drängt ihr Freund Jörg (Golo Euler), ein Musiker, auf einen Umzug nach Stuttgart. Was sich Noa schon mal gar nicht vorstellen kann. Der etwas ausgelutschte Insider-Witz für alle Berliner mit Schwaben-Phobie fällt hier nicht groß ins Gewicht, denn der Handlungsort wechselt schnell vom grauen Deutschland ins lichtdurchflutete Israel. Die zweifelnde, verunsicherte Noa flieht in die Heimat und in den Schoß ihrer „durchgeknallten Familie“, wie sie selbst sagt. Ein paar Tage später reist ihr Jörg hinterher und platzt überraschend hinein in den lauten, streitlustigen israelischen Alltag. Mutter Rachel (Hana Laslo) nörgelt, Schwester Neta (Romi Abulafia) giftet, Vater Yossi (Dovaleh Reiser) schweigt. Eine engere Beziehung hat Noa zu ihrem Bruder Dudi (Kosta Kaplan), der zurzeit in der Armee dient, und vor allem zu ihrer Oma Henja (Hana River), deren Familie von den Nationalsozialisten ermordet wurde und deren Sohn im Krieg gefallen ist. Das Familienleben hat Pfeffer und Witz, es wird beinahe fortwährend gegessen und diskutiert.
Foto: RBB / Johannes Praus
Anstrengend ist es auch, vor allem weil man die Untertitel manchmal gar nicht so schnell lesen kann, wie hier in den hebräischen Dialogen aufs Tempo gedrückt wird. Neben der Sprache und dem israelischen Ensemble um Hana Laslo, die 2005 in Cannes als Beste Schauspielerin (für „Free Zone“) ausgezeichnet wurde, sorgt auch die Kamera für einen authentisch wirkenden Alltags-Look – zumal manche Szenen, etwa von den Feiern am Unabhängigkeitstag, erkennbar im realen Straßenleben gedreht wurden. Dann wieder schwelgen die Bilder in den satten, sommerlichen Farben Israels, blinzelt Noa in die grelle Sonne, lockt das Obst an den Bäumen. „Du weißt nicht, wie die Luft hier schmeckt“, sagt Noa zu Jörg im fernen, kalten Berlin. Aber eine Ahnung bekommt man schon. Neta Riskin spielt Noas Suche nach Halt und Heimat differenziert, in allen Tonlagen, launisch, zornig, stark, zärtlich, leise, unsicher. Eine bemerkenswerte Partie der israelischen Schauspielerin. Die Liebesgeschichte mit Jörg nimmt nicht zu viel Raum ein, bleibt glaubwürdig, ernsthaft und dank der attraktiven Darsteller auch ein sinnliches Vergnügen.
Die in Israel geborene Ester Amrami legte mit ihrem Langfilm-Debüt „Anderswo“ ihren Abschlussfilm fürs Regie-Studium an der Babelsberger Hochschule für Film und Fernsehen (HFF) vor und wurde damit auf zahlreiche Festivals eingeladen. So wurde der Film 2014 in der Berlinale-Reihe „Perspektive Deutsches Kino“ gezeigt und erhielt verschiedene Nachwuchspreise. „Anderswo“ erzählt zwar im Speziellen von einer Familie in Israel, etwas überladen mit all den erwartbaren Themen, dem Krieg im Nahen Osten, dem Holocaust, dem schwierigen Verhältnis zwischen Juden, Arabern und Deutschen, auch den innerfamiliären Konflikten. Doch die universellen Fragen verlieren Amrami sowie ihr deutscher Mann und Co-Autor Momme Peters nie aus den Augen. „In welcher Sprache fühlst du dich zu Hause?“, fragt Noa am Ende ihre Oma, und um Sprache, um Kommunikation, geht es im gesamten Film. Die Protagonisten verständigen sich auf Deutsch, Englisch, Hebräisch, ein bisschen Jiddisch. Die Sprache ist Heimat und Mittel der Ausgrenzung. Sie steht für das Gefühl, fremd zu sein, und die Sehnsucht, anzukommen. Die besondere Qualität des Films ist, sich mit diesem abstrakten Thema erzählerisch leicht und intellektuell anregend auseinander zu setzen.
Foto: RBB / Johannes Praus
Während sich Jörg und Dudi mittels schlechter Witze annähern, zweifelt die fragile, sensible Noa grundsätzlich: „Man kann nichts übersetzen, nichts, nicht Bett, nicht Wand, nicht Haus, nicht Eltern, nicht Liebe.“ In der Sprache spiegeln sich auch Geschichte und Machtverhältnisse: Die Kenntnisse von Noas Oma entspringen den Notwendigkeiten unter den verschiedenen Besatzungen im Heimatort ihrer Kindheit und Jugend. Und Rose (Alma Ferreras), die ausländische Pflegekraft, die sich um Oma kümmert, liest zwar hebräische Zeitungen, aber alle sprechen nur Englisch mit ihr. Weil sie sowieso nicht bleiben darf.
Ungewöhnlich und interessant ist der Einfall, die Handlung durch sieben kurze linguistische Exkurse zu unterbrechen. Sieben Schriftsteller, Schauspieler, Regisseure oder Komponisten erläutern auf Deutsch jeweils einen Begriff ihrer Muttersprache, den sie für nicht übersetzbar halten: Filmemacher und HFF-Professor Gil Alkabetz zum Beispiel das hebräische „stam“, Fabrizio Tentoni, der auch die unaufdringliche Musik zu diesem Film komponierte, das italienische „magone“ sowie Schriftsteller Wladimir Kaminer das russische „ostranienje“. Der Ablauf der Handlung wird nicht gestört, zumal die Begriffe entsprechend ihrer jeweiligen Bedeutung passend eingefügt sind. Außerdem schärfen diese Einschübe den Sinn für die Ausdruckskraft und die Vielseitigkeit von Sprache. Das „Wörterbuch für unübersetzbare Wörter“ ist wirklich keine schlechte Idee. (Text-Stand: 1.6.2016)