Michael Schröder (Wotan Wilke Möhring) ist zur falschen Zeit am falschen Ort. Weil dem Besitzer eines Fitnessstudios finanziell das Wasser bis zum Hals steht, hat seine Frau Elisabeth (Inga Birkenfeld) ihm einen Kredit besorgt. Für sie als erfolgreiche Anwältin von blaublütiger Abstammung kein Problem. Als Dank muss er sich in Toleranz üben, denn der „Freund des Hauses“ (Godehard Giese) ist weit mehr als das: er übernimmt Michaels eheliche Pflichten gleich mit. Gerade erst gedemütigt im eigenen Haus, jetzt – mit dem Kredit in der Tasche – auch noch die einzige Geisel eines Bankraubs! Der maskierte Geiselnehmer wirkt planlos, unberechenbar, nervlich labil und entpuppt sich als Frau: ihr Name ist Nina (Julia Koschitz), Alter 35, und sie ist alles andere als ein Profi. Eine Million Euro Lösegeld fordert sie. Der Einsatzleiter (Dirk Borchardt) und die Staatsanwältin (Thelma Buabeng) spielen auf Zeit, halten die immer nervöser werdende Frau hin. Doch mit dem zermürbenden Warten auf das Geld und den Fluchtwagen kommen sich Geisel und Geiselnehmer näher, wie es der Psychologe (Simon Licht) im Krisenstab vor der Bank vorausgesagt hat. Und dann fällt Michael seine Ehefrau ein, „dieses Miststück“, und ihr immer „flüssiger“ Herr Papa…
Ein Mann am Rande des Unerträglichen. Der Antiheld des etwas anderen Krimis „Am Ruder“ kann viel aushalten. Auch sein Gegenüber, die in ihrer Plan- und Hilflosigkeit ein wenig lebensmüde wirkende Geiselnehmerin, scheint nicht auf der Sonnenseite des Lebens zu stehen. Tiefe Verzweiflung ist bei beiden Charakteren spürbar. Der Film, entstanden nach der Kurzgeschichte „Das Innere“ von Jakob Arjouni, ist ein „Heist-Movie“, das allerdings nicht aus der Bankräuber-Perspektive, sondern der Sicht der Geisel erzählt wird. „Als Regisseur interessiert es mich, den Zuschauer auf eine Reise mitzunehmen, die unerwartete Richtungen einschlägt und unvorhergesehene Routen nimmt“, betont der Regisseur und Ko-Autor Stephan Wagner. „Und wenn der Zuschauer – von Unterhaltung gesättigt und Überraschungen erschöpft – das Ende der Geschichte erreicht, dass er unseren gemeinsamen Ausflug so schnell nicht vergisst, habe ich mein Ziel erreicht.“ Sein Kommunikationsziel hat der dreifache Grimme-Preisträger (u.a. für „Mord in Eberswalde“) eindeutig erreicht. Mit dem Begriff „erschöpft“ wird sicherlich auch der eine oder andere Zuschauer etwas anfangen können.
„Am Ruder“ erfüllt bewusst die Genre-Vereinbarung nicht. Zwar werden viele Zutaten eines „Heist“-Movies und eines Geiselnahmethrillers ins Spiel gebracht, aber nicht in der Form, wie man es kennt. Die Signatur des Andersartigen bekommt die Geschichte vor allem durch die dezente Überzeichnung der Charaktere und die moderate Überspitzung der Situationen. Die Nebenfiguren, die Repräsentanten des Staates, der eitle Polizeipsychologe, der sichtlich stolz darauf ist, dass sich das von ihm prognostizierte Stockholm-Syndrom bewahrheitet, die farbige Staatsanwältin, die keine Pizza mag und in deren Magen es entsprechend (albern) rumort, besitzen mehr als ein bisschen Schräglage, kippen allerdings nie ins vornehmlich Komische, geschweige denn in feine Genre-Ironie. Und in der Bank nimmt die Interaktion der Kontrahenten, zwischen denen bald eine verzweifelte Erotik des Versagens spürbar wird, tragikomische Züge an. Klassische Thriller-Spannung darf man dagegen eher weniger erwarten: Diese ist dramaturgisch streng genommen zwar vorhanden, filmisch merkt man von ihr allerdings nicht viel. Für den Zuschauer dürften ohnehin die Hintergründe des Bankraubs und die Entwicklung der Schicksalsgemeinschaft bald interessanter sein als die genreübliche Fixierung auf den Ausgang. Dafür sorgt nicht zuletzt auch die Besetzung mit den Sympathieträgern Wotan Wilke Möhring und Julia Koschitz. Als Projektionsfläche für die Probleme der beiden Hauptfiguren fungiert das Ausstellungsplakat, das im Büro des Bankdirektors hängt. Es zeigt „Das Mädchen mit dem Perlohrgehänge“ von Jan Vermeer. „Die geht, die macht Schluss“, interpretiert Möhrings Figur den Blick der jungen Frau, in dem er einen stillen Vorwurf („totale Null“) erkennt, den er bei seiner Frau wohl oft genug gesehen hat. Die Bankräuberin indes hat ganz andere Assoziationen: „Da ist jemand gestorben.“
Foto: ZDF / Volker Roloff
Die erzählerische Qualität von „Am Ruder“ liegt jenseits eines Genrefilms. Sie liegt in den seelischen Subtexten – und sie liegt ein Stück weit auch in den kleinen Spielereien und ästhetischen Referenzen am Rande. Ob man sie genießt, ob man sie als narzisstischen Reiz für den Kenner wahrnimmt, ob man sie mehr oder weniger als zwingend erachtet oder ob man sie schlichtweg als bemüht empfindet, ist eine Frage des Geschmacks. „Rosebud“ als Code-Wort, kombiniert mit umständlichen Orson-Welles- und „Citizen Kane“-Erklärungen, ist jedenfalls ein eher Sinn-loses Zitat. Weitaus intelligenter sind die ikonografischen Anspielungen, weil sie die Wahrnehmung und die Emotion des Zuschauers beeinflussen: Julia Koschitz, deren Physiognomie der Inbegriff an Klarheit ist, unter der Maske eines verschrumpelten alten Mannes, das ist schon ein aberwitziger Gegensatz. Überhaupt, die gut aussehende Schauspielerin, 30 Minuten lang unter einer hässlichen Maske zu verstecken, das erinnert ein wenig an „Hotel New Hampshire“, die John-Irving-Verfilmung, für die die bildhübsche Nastassja Kinski im Bärenkostüm schwitzen musste. Und dann, nachdem die Geiselnehmerin die Maske abgenommen hat, sehen wir da ein Persönchen, das in seiner tragischen Gestalt eine große Ähnlichkeit zu Charlie „The Tramp“ Chaplin aufweist. Und wie beim Pionier der tragikomischen Unterhaltung gehören die Phantasien, mit denen sich die verzweifelten Hauptfiguren aus der grauen Wirklichkeit wegträumen, zu den nachhaltigsten Momenten dieses „Heist-Movies“ – dessen 40sekündiges Intro mit der Vorbereitung des Coups in Detailbildern furios ist und dessen Ende mit seiner „Taxi Driver“-Reminiszenz nicht nur die Genrepuristen überraschen dürfte. (Text-Stand: 14.5.2017)