„Mein früher Tod passt nicht ins Bild. Mein Sterben hinterlässt unschöne Risse in eurer ach so heilen Fassade.“ Die Trauergesellschaft ist geschockt. Der Abschiedsbrief des Mittvierzigers David (Golo Euler) löst Entsetzen, Abwehr und bei einigen auch Schuldgefühle aus. Mutter Rosa (Barbara Auer) versucht wie immer, Haltung zu bewahren, der gesundheitlich angeschlagene Vater (Thomas Thieme) poltert umso mehr. Die Ehefrau des Toten, Julia (Angelina Häntsch), dürften die Vorwürfe in den letzten Zeilen ihres Mannes am meisten getroffen haben. „Ihr habt alle euren Anteil daran: an meinem Leben, an meinem Sterben, an meinem Tod.“ Konkreter wird David nicht. Seine Schwester Mirjam (Antonia Bill), früh zum schwarzen Schaf in der Familie gestempelt, würde gern die ganze Wahrheit ans Licht bringen, sie aussprechen vor allen, die es nicht hören wollen. Vielleicht unterstützt sie ja Sascha (Michael Pink), der Jugendfreund ihres Bruders, der wie sie unter dem Neureichengehabe dieser Sippe gelitten hat. Davids bester Freund der letzten Jahrzehnte, Roko (Mohamed Achour), der auch die großzügige Seite der Familie kennt, hält sich lieber zurück. Jedoch auch ohne die ganz große Enthüllung droht der Trauerfeier der Eklat. Denn es tauchen zwei Frauen auf: die eine ist ein rotes Tuch für die junge Witwe, die andere für Mutter Rosa.
Eifersucht ist neben Trauer, Wut, Einsamkeit oder Schuld nur eines von mehreren Gefühlen, welches in den Geschichten der Serie „Am Ende – Die Macht der Kränkung“ mitschwingt. Im Zentrum stehen – der Titel deutet es an – die vielfältigen Möglichkeiten, Menschen, besonders die, die einem nahestehen, zu kränken, tief zu verletzen – und so unter Umständen existenzielle Entscheidungen und Lebenswege ungünstig zu beeinflussen. Für ein Drama, das verdrängte Erfahrungen und verkrustete Beziehungsmuster implosionsartig verdichten möchte, ist eine Beerdigung mit anschließender Trauerfeier der perfekte Ort. Das hat 2022 bereits die ARD-Serie „Das Begräbnis“ eindrucksvoll gezeigt. Der österreichisch-deutsche Sechsteiler von Daniel Geronimo Prochaska, der von den Drehbuchautorinnen Agnes Pluch, Marie-Therese Thill und Rebekka Reuber entwickelt wurde, begibt sich allerdings sehr viel tiefer in die Gefühlswelten aller Beteiligten hinein und verzichtet auf komödiantisch-ironische Entlastung. Geld und die daraus resultierende Machtposition hat zwar eine besondere Rolle im Leben des Toten und seiner Familie gespielt, diese Beerdigung ist aber kein Ort der Gier, sondern der emotionalen Verfehlungen. „Gerade weil sich alle um größtmögliche Harmonie bemühen, brechen ganz plötzlich familiäre Strukturen auf und alte Kränkungen kommen hoch“, bringt es Autorin Pluch auf den Punkt. Voraussetzung für den großen Knall ist der verunsicherte Todgeweihte, den die Frage umtreibt: „Warum ich?“ Was habe er falsch gemacht im Leben? Was die anderen? Ist die Krankheit eine Strafe für die eigenen Fehler?
Foto: ZDF / Domenigg / Filmstills
Psychologisch sind diese „letzten Worte“ stimmig – und im Verlauf der Serie werden sie immer plausibler. Und dramaturgisch ist ein solcher Abschied mit Knalleffekt eine ideale Vorlage, um der Geschichte aus verschiedenen Perspektiven nachzuspüren: aus der des Toten, seiner jüngeren Schwester, seines besten Freundes, seiner Mutter, seiner Frau und seines Sohnes. Jede dieser Personen bekommt ihr eigene Serienfolge. Die jeweilige Figur rückt ins Zentrum. Der Zuschauer bekommt sie umfassender als andere porträtiert, kann ihre Motivationen besser nachvollziehen, ohne sie (moralisch) gutheißen zu müssen. Und so liefert „Am Ende – Die Macht der Kränkung“ einem nicht sechs völlig unterschiedliche Wahrheiten, sondern sechs subjektive Sichtweisen der Wirklichkeit, die von einigen unbezweifelbaren Fakten untermauert wird. Und es gibt eine Reihe weiterer Figuren, Jugendfreund Sascha (Nils Hohenhövel), Vater Rolf (Shenja Lacher) oder Studentenliebe Aischa (Gizem Emre), die das Leben & die Beziehungen des Toten entscheidend mitgeprägt haben. Denn eine der Prämissen des Plots spricht David gleich zu Beginn aus: „Alles, was ein Mensch tut, was er sagt, was er nicht sagt, hinterlässt Spuren. Jede unserer Handlungen übt einen Effekt auf das Leben anderer aus.“ Als Ausgangspunkt für das Konzept einer Drama-Serie mag das banal klingen, als subjektive Rede einer nachdenklich gewordenen Figur, die ihrem Leben und seinem tragischen Ende einen Sinn zu geben versucht, sind diese Worte glaubwürdig. Sie machen deutlich, was diese Serie antreibt: die Familie, die Freunde, die Formen der Kommunikation.
Der Umgang miteinander ist in der ersten Folge „David“ vor allem von der Stimmung der Trauerfeier getragen: Tränen, schmerzvolle Blicke, Sprachlosigkeit. Ebenso bedrückend ist das, was sich wenige Wochen und Monate zuvor ereignet hat: die schlimme Diagnose, ein „Abschiedsbesuch“ von Jugendfreund Sascha, Roko, der zwar eine sensible Trauerrede hält, aber es nicht fertigbringt, seinen Freund kurz vor seinem Tod noch einmal zu besuchen, auch die schwer einzuordnenden Informationen um Davids Sohn Leon (krank oder ein Phantom?) und Schwester Mirjam, die ihren einst so geliebten Bruder auch schon längere Zeit nicht gesehen hat, lassen einen als Zuschauer aufhorchen. Die Erzählung besitzt also eine Menge Leerstellen, die im Verlauf der sechs Folgen gefüllt werden. Dabei verflüchtigt sich mehr und mehr die große Last der Gefühle, die anfangs doch sehr bedeutungsschwer auf den Bildern liegt. Und auch das, was absolut für die Abkehr vom chronologischen Erzählen spricht, die Konzentration nur auf das für die Geschichten Wesentliche, kann dazu führen, dass für manch einen die Narration mit Bedeutung überfrachtet wirkt. Aber genauso wie sich die Schwere verflüchtigt, so lässt dieser Eindruck von Semantik-Overkill nach, je näher einem die Figuren kommen und je mehr man in den Flow der Serie hineingerät. Die dramaturgisch besonders clever konzipierte Folge 5 ist die Schlüssel-Dreiviertelstunde der Serie: Man erahnt zunächst die Hauptlebenslüge der Geschichte – und man kann sie sich nach und nach bestätigen lassen. Nach über vier Folgen Informationsfülle mit vielen Fragezeichen ist dieses Bisschen Gratifikationsdramaturgie wohltuend. Bleibt die Folge 6 und die spannende Frage, wie die Charaktere auf der Trauerfeier mit der Wahrheit umgehen werden.
Foto: ZDF / Domenigg / Filmstills
Die Serie „Am Ende – Die Macht der Kränkung“ zeigt uns über ihre nie lang werdenden sechs Folgen etwas, was viele andere Produktionen nur behaupten. Während vor allem in Krimi-Dramen Lebenslügen auf der Zielgeraden eines Films oder einer Serie aufgedeckt werden, um eine unmoralische oder gar mörderische Tat zu erklären, so ermöglicht es hier die kluge Puzzle-Dramaturgie der Lebenslüge quasi bei ihrem Entstehen und bei ihren tragischen Konsequenzen zuzuschauen. Da „Am Ende“ die zweite Staffel einer Anthologie-Serie zum Thema „Die Macht der Kränkung“ ist, muss natürlich das psychologische Motiv „Kränkung“ eine fundamentale Funktion für das komplexe Beziehungsnetz der Figuren besitzen. Die erste stärker am Thriller orientierte Staffel erzählte von einem Amoklauf und sechs Charakteren, die alle eine Form von Kränkung erfahren haben und als potenzielle Attentäter in Frage kommen. Das Phänomen der Kränkung innerhalb einer Gruppe von Menschen, Familie und Freunde, sichtbar zu machen, ist ungleich komplizierter. Denn alles hängt mit allem zusammen, jeder beeinflusst jeden. Tiefgreifende Interdependenzen, wohin man schaut.
Dass Kränkungen krank machen können – und dass die krank gewordene Figur der Serie sich Gedanken über die Gründe seiner Krankheit macht, ist nachvollziehbar. Dass allerdings fast alle Figuren sich in einem Knäuel aus Kränkungen, Entwertungen und seelischen Verletzungen verfangen, scheint manchmal ein bisschen zu viel des Psychologisierens. „Die Kränkungen explodieren gerade in meinem Körper“, steht in Davids Abschiedsbrief. Das klingt schon sehr theoretisch. Die nächsten fünf Folgen erheben – inspiriert von Reinhard Hallers Sachbuch „Die Macht der Kränkung“ – schließlich die Kränkung zum Lebensprinzip. Das hat etwas von verfilmter Kommunikationstheorie, erinnert an Sherry Hormanns Kinofilm „Anleitung zum Unglücklichsein“ (2012) nach Paul Watzlawick. Auch wenn die Interaktionen inklusive Dialogwechsel mitunter Vorzeige-Charakter besitzen, am Ende obsiegt in der Wahrnehmung des Kritikers jedoch auch hier – wie bei der dramaturgischen Bedeutungsdichte – der spannende Fluss der Erzählung und das Springen durch die Zeiten, die diesen deduktiven Erkenntnisprozess vergessen machen. Erleichtert wird dieses Vergessen durch die Top-Besetzung, durch Schauspieler, die ihre Rollen mit Leben füllen und das, obwohl sie sie nur ausschnitthaft darstellen dürfen, Schauspieler, die weder Typen noch Thesen verkörpern, auch wenn man einige dieser Figuren und Konstellationen aus anderen Beziehungsdramen kennt. Man kennt sie aber eben auch aus dem Leben. So fließt am Ende beides stimmig zusammen: die ästhetische Konstruktion, die Montage von Lebensabschnitten, und die Lebenswelt, wie man sie aus eigener Erfahrung kennt. Und so ist das Statement von Regisseurs Daniel Geronimo Prochaska gar nicht mal so abwegig: „Für mich gibt es die Hoffnung, dass Menschen, die die Serie anschauen, vielleicht etwas für sich mitnehmen können, sich selbst hinterfragen, ob sie wirklich hinreichend auf ihre Mitmenschen achten.“