Schüsse in einem Wiener Einkaufscenter. Von Toten und Verletzten berichten die Medien. Offenbar ein Amoklauf. Wer ist der Täter? Bei wem sind die Sicherungen durchgebrannt? Mehrere Personen, die sich an diesem Vormittag in der Mall aufhalten, könnten eine solche menschliche Zeitbombe sein. Georg (Murathan Muslu) zum Beispiel: Der Wachmann, dem ein Gewaltproblem nachgesagt wird, tut alles für seine blinde Partnerin (Antje Traue), doch es ist oft das Falsche. Auch Mira (Julia Koschitz), die Business-Frau, die ganz nach oben will, kann sich die Tatsache, dass ihr Chef (Anian Zollner) sie ausgebootet hat, nicht länger schönreden. In einer tiefen Lebenskrise befindet sich auch die Ärztin Sarah (Johanna Wokalek): Ihre Praxis läuft schlecht, der Ex nervt und zahlt zu wenig, ihr Arzthelfer (Daniel Langbein) will sich ihre Liebe „erkaufen“ (Daniel Langbein) – und auch als Mutter hat sie versagt. Die Nachhilfe-Lehrerin ihres Sohnes, Ingeborg (Ulrike Willenbacher), sagt ihr das mitten ins Gesicht. Mit dem Schlechte-Mutter-Sein kennt diese sich aus: Mira ist ihre Tochter. Unterzugehen in einem Strudel unguter Gefühle droht auch Lorenz (Jonas Holdenrieder), der junge Kellner mit Knastvergangenheit. Denn seine Liebste, Friseurin Saschi (Lea Zoe Voss), hat noch einen Verehrer: Wachmann Mario (Paul Wollin). Und der hantiert gern mit seiner Knarre herum.
Amokläufer sind meist zutiefst gekränkte Menschen. Menschen, die vom System abgehängt wurden und auch emotional vor dem Nichts stehen. Die Folgen: soziale Isolation, schwere Depression. „Am Anschlag – Die Macht der Kränkung“ entwickelt über sechs Mal 45 Minuten die Vorgeschichte einer solchen Tat. Die ZDF-Serie von Umut Dag („Tatort – Das Monster von Kassel“) nach dem Drehbuch und Konzept von Agnes Pluch („Landkrimi“) erzählt ihre zahlreichen Dramen mit den Mitteln eines analytischen Thrillers, indem Pluch es bis zur letzten Folge offenlässt, welche Person der rund zehn „Verdächtigen“ Rot sieht. Alle Interaktionen sind aufgeladen mit kleinen alltäglichen Kränkungen, stecken aber auch voller biografischer Verletzungen, die eine lange Vorgeschichte haben. So steckt der sanft-harte Wachmann, der wenig aus seinem Leben gemacht hat, voller Minderwertigkeitsgefühle. Wäre seine Freundin nicht vor Kurzem durch einen Unfall erblindet, wären beide gewiss kein Paar mehr. Emotionale Zurückweisung und narzisstische Kränkung spielen die zentrale Rolle in den Sub-Plots. Mal sind es die Kinder, die jahrelang übersehen wurden, mal die Tochter, die ihre Mutter „geborenes Opfer“ schimpft, es selbst ganz anders macht, aber als Frau der Tat ebenfalls scheitert. Da ist eine andere Mutter, finanziell am Abgrund, die mit ihren eigenen Schuldgefühlen kämpft und sich auch noch von ihrem Sohn und ihrem Ex-Mann schwerste Vorwürfe anhören muss. Und mal ist es der angehimmelte „Traumpartner“, der einem den Knockout beschert, einen brüsk abweist, verletzt („Du bist mir egal“), vor Dritten lächerlich macht. Lange Zeit läuft hier kaum eine Kommunikation ungestört ab. Immer herrscht ein Ungleichgewicht, ein Machtgefälle, wirkt eine latente ungesunde Kraft. Fast wie eine Anthologie zwischenmenschlicher Kränkungen nehmen sich diese 270 Filmminuten aus.
Die Autorin spricht aus gutem Grund von einem „Reigen der Kränkungen“. Da viele der Geschichten lebensklug und dramaturgisch clever miteinander verzahnt sind, ist es – verglichen mit dem berühmtesten „Reigen“ aus Wien – sogar noch mehr als eine bloße Verkettung höchst menschlicher Affekte und Emotionen. Die Geschichten schaukeln sich gegenseitig hoch. Darüber hinaus tut die Serienstruktur dem Erzählten ohnehin gut: Sie erhöht die Dynamik, sorgt für Abwechslung und vermeidet – überraschenderweise – trotz der Häufung der tragischen, sich zuspitzenden dramatischen Plots, dass man als Zuschauer ein Opfer von Depri-Stimmungen wird. Pluch gelingt es gleichzeitig, jeden Charakter, jeden Konflikt, jede Krise ernst zu nehmen. Das ist umso bemerkenswerter, weil hier doch viel Dramaturgie im Spiel ist, der Grundplot ein künstliches Konstrukt darstellt, das der Handlung eine spannende Struktur geben soll. Mehr und mehr wird diese Spannungsschraube angezogen – aber es ist die des Dramas, nicht des Thrillers. Dieser kommt zu Beginn jeder Folge kurz ins Spiel, indem an die Ausgangssituation, den Amoklauf, erinnert wird. Vier Tage, drei Tage zwei Tage … wie ein Countdown ist die Serie strukturiert. Außerdem gibt es immer wieder kurze Einstellungen, in denen eine der Figuren am Tag X gezeigt wird: Man sieht Tränen, Todesangst, einen Suizidversuch, man sieht, wie einer Augenzeugin des Amoklaufs das Blut ins Gesicht spritzt. Diese vorausdeutenden Flashs wurden in Situationen eingewoben, in denen sich die Person ausnahmsweise in einem emotionalen Hoch befindet, „so dass die Fallhöhe, die sie am Ende der Serie erwartet, so greifbar wie möglich wird“, betont Regisseur Dag.
„Am Anschlag – Die Macht der Kränkung“ ist eine Serie aus einem Guss. Obwohl in ihr das Drama über den Thriller obsiegt, hält sie die – vor allem psychologische – Spannung bis zur besonders packenden Auflösungsfolge sechs hoch, besitzt aber nicht jenen Sogcharakter, von dem kommerzielle Anbieter träumen (und den leider auch Kritiker zum Qualitätskriterium erheben). Pluchs analytische Spannungsstruktur hat den Vorteil, dass man die sechs Folgen in einem Rutsch goutieren kann, sie für Nicht-Serien-Maniacs aber ebenso gut im Zweier- oder Dreierpack funktionieren. Die Ausstrahlung von ZDFneo, zwei Sendetermine à drei Folgen, ist ideal, da man nach drei Folgen alle wichtigen Charaktere kennt. Auch das ein Plus der Serie: Es gibt keine überladene Exposition mit flüchtig angerissenen Biografien und Fragezeichen über Fragezeichen; vielmehr konzentrieren sich die ersten fünf Folgen auf jeweils eine Person, um die sich die anderen – alltagslogisch und bestens überschaubar – gruppieren. Auch die vielfältige Personnage, in der sich die Altersgruppen die Waage halten, sowie ihre Besetzung erleichtern die Orientierung. Da sind die „Stars“ der Serie, Murathan Muslu, der sanfte Bizeps-Mann, Julia Koschitz, die kühle Kopf-Frau, Johanna Wokalek und Antje Traue, denen Schauspieler wie Jonas Holdenrieder, Paul Wollin, Daniel Langbein, Lea Zoe Voss und vor allem Theaterschauspielerin Ulrike Willenbacher in nichts nachstehen.
Durch die klare Finalisierung der Serie – spätestens zu Beginn von Folge drei dürfte auch für den nicht vorinformierten Zuschauer die Rückblenden-Countdown-Struktur erkennbar sein – können die Macher auf die in vielen Serien übliche wabernd bedeutungsschwere Rätselhaftigkeit (der vielen angerissenen Plot-Fäden) verzichten. Außerdem hat „Am Anschlag“ über den spannenden Plot hinaus etwas zu erzählen: Der Untertitel macht es deutlich. Die Macher verzichten zwar, die Psychologie eines solchen Amoklaufs thematisch zu vertiefen, beispielsweise von der höheren Warte eines Wissenschaftlers aus, aber genau diese gängige Praxis eines Neunzig-Minüters braucht diese Serie mit ihren ruhig entwickelten Charakterprofilen nicht. Denn sie ist nicht nur wohlüberlegt konzipiert und geschrieben, sondern auch kongenial inszeniert. Regisseur Umut Dag, Kameramann Cristian Pirjol und Cutter Harald Aue erzeugen einen intelligenten Bilderfluss, der im Detail sehr physisch und suggestiv ist und der durch die Montage und die Vielzahl der Geschichten dem Zuschauer gleichzeitig auch eine gewisse Distanz zum Gezeigten ermöglicht. Und so braucht „Am Anschlag – Die Macht der Kränkung“ keine theoretische Anleitung zum Themenverständnis. Wer hinschaut, zuhört und wer die vielen Schicksale auf sich wirken lässt – der kann sich von dieser tagtäglichen „Macht der Kränkung“ selbst ein Bild machen.