Am Abgrund

Wagner, Jordan, Tabatabai, Levshin, Daniel Harrich. Lauter Widerhall wünschenswert!

Foto: SWR / diwafilm / Schlicht
Foto Thomas Gehringer

Der „neue Harrich“ knöpft sich die Themen Korruption und Rohstoffhandel vor: Im Politthriller „Am Abgrund“ (SWR, WDR, BR, SR / Diwafilm), dem fiktionalen Kernstück des ARD-Thementags „#unsereErde“, legen sich eine junge Bloggerin aus Baku und ein deutscher Politiker mit dem aserbaidschanischen Regime und seinen geschmierten Kumpanen im Europarat an. Daniel Harrich (Drehbuch, Regie) liefert wieder relevanten und aktuellen Diskussionsstoff, diesmal zur Energiewende und dem enorm wachsenden Bedarf an kritischen Rohstoffen. Der prominent besetzte Politthriller sorgt für solide Spannung, wobei die Protagonisten im Gut-Böse-Schema recht leicht zu verorten sind. Die lobenswerte Aufklärung wäre mit weniger Pathos und mehr Mut zu ambivalenten Figuren noch sehenswerter.

Gerade hat sich Aserbaidschans autokratischer Präsident Ilham Alijev mit mehr als 90 Prozent Zustimmung wiederwählen lassen, da wirken die Szenen in Daniel Harrichs Film „Am Abgrund“ wie ein aktueller Kommentar. Eine junge Frau gibt in Baku ausgefüllte Wahlzettel der eigentlich schon verstorbenen Großeltern ab. Und irgendwo auf dem Flur stehen unbeaufsichtigt ein paar gut gefüllte Wahlurnen herum. Aber außer den von Hans-Jochen Wagner gespielten Wahlbeobachter Gerd Meineke scheint das niemanden zu stören. Seine ebenfalls vom Europarat entsandte Kollegin Kerstin Strauch (Johanna Christine Gehlen) geht lieber shoppen. Und Herbert Pfleiderer (Heiner Lauterbach), der Sprecher der wackeren Abordnung, gratuliert vor den Kameras ungerührt zu einer „gelungenen demokratischen Wahl nach europäischen Standards“. Unschwer zu erkennen, dass das europäisch-aserbaidschanische Netzwerk wie geschmiert funktioniert.

Am AbgrundFoto: SWR / diwafilm / Harrich
Gefährliche Liaison beim Kampf um Demokratie. Valentina Akhmedova (Alina Levshin), Referentin eines aserbeidschanischen Abgeordneten, und die oppositionelle Bloggerin Leyla Kasparjan (Jordan), müssen geheimhalten, dass sie ein Paar sind.

Meineke ist der Typ aufrechter Politiker, der seinen moralischen Kompass noch nicht verloren hat. Ein roter Teppich beim Empfang, ein goldener Stift, attraktiver Damenbesuch im Hotel – Wagner spielt einen Sozialdemokraten aus dem Ruhrgebiet, dem man gerne abnimmt, dass er sich bei solchen Avancen unwohl fühlt. Seine Heimatstadt Recklinghausen wird auf ebenso ungewöhnliche wie originelle Weise ins Spiel gebracht – durch eine Karnevalssitzung, was übrigens keineswegs geflunkert ist. Sicherheitshalber sieht man später im nahen Hintergrund den Förderturm einer ehemaligen Kohlenzeche, als Meineke mit seiner Partnerin Alina Kasparjan (Jasmin Tabatabai) im Garten sitzt. Und der Recklinghäuser Martin Brambach hat ein kurzes Heimspiel, als er bei einem Auftritt bei der Karnevalssitzung über die Energie-Wende wettert – eine Tirade, die das Publikum auf die Hintergründe des Dramas einstimmt. Auch weitere Nebenrollen sind mit Axel Milberg (als Manager) und Sebastian Bezzel (als Politiker) prominent besetzt. Janina Hartwig wiederum wird nach umfangreichen Einsätzen in populären Serien wie „Um Himmels Willen“ mal als Journalistin ganz anders besetzt.

Alina floh mit ihrer Tochter einst aus Aserbaidschan, wo das Haus ihrer Familie dem Rohstoffabbau zum Opfer gefallen und ihr Mann ums Leben gekommen war. Mittlerweile ist Tochter Leyla (Luna Jordan) wieder zurück in der Heimat. Mit dem regimekritischen Blog „Die Stimme von Aserbaidschan und das Gewissen von Baku“ hat sie sich einen Namen gemacht. Allerdings wurde Leyla gerade verhaftet, weil sie sich Jennifer Lopez vor einem Auftritt im prachtvollen Nationalstadion von Baku mit einer kritischen Frage in den Weg stellen wollte. Die echte J.Lo ist tatsächlich mal in Aserbaidschan aufgetreten – die Öl- und Gas-Millionen der ehemaligen Sowjetrepublik in Vorderasien machen es möglich. Leylas Mut gefährdet auch ihre Partnerin: Valentina Akhmedowa (Alina Levshin) ist die Referentin von Tofik Gasimov (Navid Negahban), der die Delegation des Europarats empfängt und in diesem Gremium auch das aserbaidschanische Regime vertritt. Gasimov ist, grob gesagt, der Antiheld aus dem Reich des Bösen. Vielleicht um die Sache nicht allzu plump erscheinen zu lassen, wird ihm am Schluss eine Kehrtwende angedichtet, die aus ziemlich heiterem Himmel kommt. Meineke, der der hochschwangeren Alina etwas unromantisch im Büro einen Heiratsantrag macht, setzt sich also auch aus privaten Motiven für die Einhaltung der Menschenrechte ein. Und tatsächlich wird Leyla aus der Haft entlassen. Gasimov erteilt ihr sogar die Erlaubnis weiter zu bloggen, „aber kein Wort mehr über Politik. Mach was über Haarpflege“.

Am AbgrundFoto: SWR / diwafilm / Wiesler
Unternehmer Konrad Günther (Axel Milberg) hat den Eindruck, dass der Abgeordnete Meineke (Hans-Jochen Wagner) sich dem aserbeidschanischen Vertreter Gasimov (Navid Negahban) gegenüber ungeschickt verhält. Etwas starres Gut-Böse-Schema

Die eindringliche Inszenierung von Daniel Harrich lässt keinen Zweifel an der Gewaltbereitschaft des Regimes, das seine Gegner überwacht, bedroht und ins Gefängnis wirft. Umso zynischer wirkt das Verhalten der Abgeordneten Pfleiderer und Strauch, die sich hofieren lassen und den Auftrag zur Wahlbeobachtung als Lustreise begreifen. Axel Milberg wiederum spielt Konrad Günther, den Manager eines deutschen Unternehmens, das mit dem staatlichen Energiekonzern aus Aserbaidschan Geschäfte macht. Günther gibt öffentlich salbungsvoll den Vorkämpfer des europäischen „Green Deal“, während Menschen für den Rohstoff-Abbau zwangsumgesiedelt werden. „Wir können unsere westlichen Demokratien nicht einfach so exportieren“, wischt er Meinekes Bedenken vom Tisch.

Zwar sind Figuren und Dialoge wieder recht plakativ geraten, aber die permanente Drohkulisse und die halb private, halb politische Mission Meinekes bieten soliden Thrillerstoff. Mit Valentinas Hilfe hat Leyla geheime Unterlagen gesammelt, die ihr künftiger Stiefvater außer Landes bringen soll. „Am Abgrund“ erzählt im Vergleich mit dem letzten Harrich-Film („Bis zum letzten Tropfen“), der sich der drohenden Wasserknappheit widmete, spannungsreicher und dramaturgisch überzeugender. Stark auch das heftige Finale, das immerhin der populistischen Schlussfolgerung entgegenwirkt, dass die europäischen Demokratien hoffnungslos korrupt und verrottet seien. Die Europa-Hymne passt wiederum zu dem Pathos, das durch Harrichs Filme weht. Weniger wäre mehr und würde den Anspruch, ein breites Publikum erreichen zu wollen, keineswegs unterlaufen.

Am AbgrundFoto: SWR / diwafilm / Harrich
Gasimov (Navid Neghaban) macht Leyla (Luna Jordan) klar, dass sie mit politischer Berichterstattung und Agitation aufhören soll.

Die Bezüge zur Realität sind offenkundig: Im Gegensatz zum Film wurde der aserbaidschanischen Delegation vom Europarat gerade die Akkreditierung entzogen. Und die Generalstaatsanwaltschaft München hat Anklage gegen zwei ehemalige Bundestagsabgeordnete von CDU und CSU wegen Bestechlichkeit erhoben. Sie sollen gegen Entlohnung aus Baku für die Interessen Aserbaidschans gearbeitet haben. Die Fiktion schließt die Korruptions-Affäre außerdem mit der aktuellen Debatte um die Energiewende kurz. Aserbaidschan ist nun angeblich nicht nur wegen der reichen Gas- und Ölvorkommen, sondern nach der Eroberung von Karabach auch wegen kritischer Rohstoffe, die für die Produktion von E-Autos und Smartphones von großer Bedeutung sind, ein wichtiger Handelspartner.

Die Fiktion schließt die Korruptions-Affäre außerdem mit der aktuellen Debatte um die Energiewende kurz. Aserbaidschan ist nun angeblich nicht nur wegen der reichen Gas- und Ölvorkommen, sondern nach der Eroberung von Karabach auch wegen kritischer Rohstoffe, die für die Produktion von E-Autos und Smartphones von großer Bedeutung sind, ein wichtiger Handelspartner. Harrichs begleitende Dokumentation beziehungsweise die dreiteilige Doku-Reihe (ebenfalls ab 1. März in der Mediathek) will diese These offenbar untermauern, wie der Ankündigung des Senders zu entnehmen ist: „Exklusive Recherchen zeigen, wie das Netzwerk aus Korruption und Gefälligkeiten dafür genutzt wird, Krieg und Vertreibung zu rechtfertigen. Als Gegenleistung stellt Aserbaidschan den Zugang zu heiß umkämpften, kritischen Rohstoffen in Aussicht. Und europäische Unternehmen greifen gerne zu. Der Preis dafür: Menschenrechtsverletzungen und eine hemmungslose Zerstörung der Natur, im Namen der EU-Politik ,Green Deal‘.“ Darüber muss geredet werden, insofern kann man dem „neuen Harrich“ trotz mancher Schwächen bei der fiktionalen Zuspitzung nur lauten Widerhall in Politik und Gesellschaft wünschen. (Text-Stand: 15.2.2024)

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Fernsehfilm

BR, SR, SWR, WDR

Mit Hans-Jochen Wagner, Luna Jordan, Jasmin Tabatabai, Navid Negahban, Alina Levshin, Heiner Lauterbach, Johanna Christine Gehlen, Axel Milberg, Janina Hartwig, Sebastian Bezzel, Martin Brambach, Christine Sommer

Kamera: Daniel Harrich, Walter Harrich

Szenenbild: Michael Köning

Kostüm: Nicole Dannecker

Schnitt: Constantin Dauch

Musik: Jörg Lemberg

Redaktion: Manfred Hattendorf, Corinna Liedtke, Claudia Glaziejewski, Andrea Etspüler

Produktionsfirma: Diwafilm

Produktion: Danuta Harrich-Zandberg, Walter Harrich, Daniel Harrich

Drehbuch: Daniel Harrich

Regie: Daniel Harrich

Quote: 3,64 Mio. Zuschauer (14,2% MA)

EA: 01.03.2024 10:00 Uhr | ARD-Mediathek

weitere EA: 06.03.2024 20:15 Uhr | ARD

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