Altes Land

Iris Berben, Kunzendorf, Kurth, Liesau, Peschel, Sherry Hormann. Die Kunst des filmischen Erzählens

Foto: ZDF / Mathias Bothor
Foto Rainer Tittelbach

Wie sich trotz historisch völlig unterschiedlicher Zeiten Lebenswege, die Suche nach den eigenen Wurzeln, das Ringen um Zugehörigkeit und Identität ähneln und wie bestimmte Kommunikationsmuster in Familien nicht totzukriegen sind – davon erzählt der Zweiteiler „Altes Land“ (ZDF / UFA Fiction) nach dem gleichnamigen Roman von Dörte Hansen. Wie findet man seine Heimat, seine Bestimmung, sein Glück? Wie geht man selbstbestimmt vor, ohne seine Liebsten zu verletzen oder gar alle familiären Verbindungen abzubrechen? Das sind neben den Mythen Kindheit, Flucht, Alter, Tod die großen Themen dieses TV-Highlights 2020. Fünf, sechs Lebensläufe werden 180 Filmminuten lang aufgefächert; dabei verzichtet Sherry Hormann klugerweise auf die chronologische Abfolge der Ereignisse. So lassen sich Bezüge zwischen Heute und Gestern leichter herstellen für den Zuschauer, der über die Wahrnehmung zum kreativen „Mitautor“ wird. Aber auch im Detail, bis in die Mise en Scéne hinein, komprimiert die Autor-Regisseurin mit ihren perfekt arbeitenden Gewerken ihre Geschichte(n) meisterlich. Im Grunde besteht der wunderbar wahrhaftig gespielte Zweiteiler fast nur aus Szenen und Bildern, die es in sich haben und nicht vergessen werden wollen.

Die Zeiten sind mal wieder nicht leicht für Vera (Iris Berben), das Flüchtlingskind aus Masuren, das nach dem Zweiten Weltkrieg auf einem Hof im Alten Land hängegeblieben ist. Verlassen im Teenageralter von ihrer Mutter (Birthe Schöink), die höher hinauswollte, hat sie die ländliche Gegend in der Nähe Hamburgs zu ihrer Heimat gemacht. Vor Kurzem ist Veras Stiefvater Karl Eckhoff (Milan Peschel) gestorben. Mit ihm allein hat sie jahrzehntelang den einst stattlichen, mittlerweile etwas heruntergekommenen Hof bewirtschaftet. Wie soll es nun weitergehen? Vera ist über 80, will sich aber nur widerwillig helfen lassen. Die Tage nach der Trauerfeier haben das nie besonders gute Verhältnis zwischen ihr und ihrer sehr viel jüngeren Halbschwester Marlene (Nina Kunzendorf) eher noch verschlechtert. An diese immer verschlossener werdende Frau kommt nur noch gelegentlich ihr Nachbar Hinni (Peter Kurth) ran, mit dem in frühen Jahren, noch vor Veras (Maria Ehrich) Medizinstudium, auch mehr als eine Freundschaft fürs Leben möglich gewesen wäre. Selbst als ihre Halbnichte Anne (Svenja Liesau) sie darum bittet, sie und ihren Sohn Leon (Marian Dilger) mit auf dem Hof wohnen zu lassen, weist Vera die beiden ab. „Das hier ist kein Ort für Euch.“ Damit könnte sich der Kreis zur Nachkriegszeit schließen, als die kleine Vera und ihre Mutter im Alten Land alles andere als willkommen waren. „Ich hasse Euch, Ihr polnischen Schmarotzer“, wetterte damals Karls Mutter (Karoline Eichhorn). Wenig später nahm sie sich den Strick. So verbittert wie diese Witwe, deren Sohn (Kilian Land) als seelischer „Krüppel“ aus dem Krieg kam, ist Vera nicht. Und Anne gibt nicht so schnell auf. Das liegt wohl in der Familie.

Soundtrack:
Theresa Andersson („God’s Highway“), Yves Montand („Ami Lointain“), Alfred Brendel & London Philharmonic Orchestra („2. Adagio Un Poco Masso“)

Und so wird der geschichtsträchtige Hof im Alten Land erneut Zufluchtsort für eine junge Mutter mit ihrem Kind. Wie sich trotz historisch völlig unterschiedlicher Zeiten Lebenswege, die Suche nach den eigenen Wurzeln, das Ringen um Zugehörigkeit und Identität ähneln und wie bestimmte Kommunikationsmuster in Familien nicht totzukriegen sind – davon erzählt der Zweiteiler „Altes Land“ nach dem gleichnamigen Roman von Dörte Hansen. Wo und wie findet man seine Heimat, seine Bestimmung, sein Glück? Wie geht man selbstbestimmt vor, ohne seine Liebsten zu verletzen oder gar alle familiären Verbindungen abzubrechen? Das sind die großen Themen dieses Fernsehfilm-Highlights. Ins Spiel kommen weitere Mythen, die das Leben, aber auch die fiktionalen Erzählungen bestimmen: Kindheit, Alter, Sterben – mit all seinen tiefen Emotionen. Oder Flucht: Mal geht es ums nackte Überleben, mal um die moderne Form der Flucht von der Stadt aufs Land. Auch Lebens- und Liebesmodelle ziehen sich durch die Narration: Wer glaubt getrennte Eltern oder komplizierte Beziehungen seien ein Phänomen der Neuzeit, der irrt. Gestreift werden aber auch Zeitgeistthemen wie Ernährung oder Altenpflege. Wann kann der Tod eine Erlösung sein – und für wen? Die tiefgründige Betrachtung der zeitgeschichtlich-biographischen Ereignisse wird von Autor-Regisseurin Sherry Hormann („Helen, Fred & Ted“ / „Tödliche Geheimnisse“) erfreulicherweise nicht – etwa, um das Vergangene leichter konsumierbar zu machen – der „Zeitlosigkeit“ geopfert.

Altes LandFoto: ZDF / Sandra Hoever
Eine zerrissene Familie. Zwei Halbschwestern (Iris Berben, Nina Kunzendorf), die sich ein Leben lang fremd geblieben sind. Eine Tochter (Entdeckung: Svenja Liesau), die eine größere Nähe zu ihrer Tante als zu ihrer Mutter hat. Und der Nachbar (Peter Kurth), der ein guter Freund ist, aber auch ein Lebenspartner hätte werden können.

Es sind aber nicht allein die zahlreichen für den Zuschauer anschlussfähigen Motive und Themensplitter, die „Altes Land“ zu einem narrativen TV-Kleinod machen. Vor allem ist es die faszinierende Erzählweise, die einen als Zuschauer in den 180 Minuten sehr viel mehr entdecken lassen kann als bloß das Erzählte. Es werden fünf, sechs Lebensläufe aufgefächert; dabei verzichtet der Film klugerweise auf die chronologische Abfolge der Ereignisse. Gegenwart und Vergangenheit werden zerlegt, wegweisende Momente gesammelt, die sich nach und nach vom Zuschauer problemlos zu einem Gesamtbild zusammenfügen lassen. So kann weniger Wichtiges leichter ausgespart und Bezüge zwischen Heute und Gestern durch die Erzählstruktur erkennbarer hergestellt werden. Dieser Flow durch die Zeiten schult nicht nur die Aufmerksamkeit, er lässt den Zuschauer mit Hilfe seiner Wahrnehmung zum kreativen „Mitautor“ werden. Darüber hinaus regen diese Einblicke in das Leben einer Handvoll eigenwilliger Charaktere auch die ganz individuelle Phantasie an: Vera, Marlene, Anne & Co locken quasi eigene Lebenserfahrungen bewusst oder unbewusst aus dem Zuschauer hervor. Fluchtgeschichten in der eigenen Familie, das Loslassen eines geliebten Menschen, schmerzliche Pflege- und Sterbeprozesse, aber auch das eigene Älterwerden und die immergleichen Konflikte zwischen den Generationen – all das kann einem durch den Kopf schwirren bei diesem Film, der so viel zu erzählen hat, aber einem trotzdem die Zeit lässt, solche persönlichen Gedanken anzustellen. Insofern gelingt Hormann mit „Altes Land“ ein Film über das Leben im wahrsten Sinne des Wortes, ein zutiefst bewegender Film, der eben im Idealfall auch im Auge des Betrachters einen existentiellen Widerhall zu erzeugen vermag.

„Der Zweiteiler erzählt keinen Plot im üblichen Sinn. Es ist dieser unsichtbare Rucksack, den wir mit uns tragen, der über die Jahre voller und voller wird an Erlebtem, aus dem Erinnerungen werden. Die wir uns manchmal trauen auszugraben, uns manchmal davor fürchten, sie gar vergessen – und doch: Es braucht nur einen Anlass, bis die zur Seite geschobenen Bilder sich innerlich auftürmen und eine Welle an Veränderung losschlagen (können). Manche nennen das auch Leben.“ (Sherry Hormann, Drehbuch und Regie)

„‚Altes Land‘ ist eine zeitlose und aus den Figuren und ihren individuellen Schicksalen heraus getriebene Erzählung, die Vergangenheit und Gegenwart miteinander verbindet wie ein Mosaik, das nur durch seine Einzelteile komplett erscheint.“ (Matthias Adler, Ausführender Produzent)

„Vera kann gut alleine sein, ohne einsam zu sein. Die unerfüllte Sehnsucht und Liebe zu Hinni, gespielt von Peter Kurth, das sind schöne Momente, die sich nur über Blicke und eine große Ruhe auszeichnen.“ (Iris Berben)

„Alle Figuren in ‚Altes Land‘ tragen Verletzungen, Defizite, Kummer in sich. In Marlene habe ich immer das zu kurz gekommene Kind gesehen. Zu wenig geliebt und zu wenig verwurzelt, weil ein wichtiger Teil ihrer Familiengeschichte im Nebel liegt. Die Tochter, die ein Sohn hätte werden sollen.“ (Nina Kunzendorf)

So etwas kann nur gelingen mit der richtigen Erzählweise im Großen, aber auch im Detail muss narrativ und ästhetisch alles passen. Und gerade darin, in den einzelnen Szenen, den Augenblicken und filmischen Einstellungen, überzeugt „Altes Land“ ganz besonders. Ein Laib Brot auf dem Küchentisch erstrahlt in begehrenswerter Sinnlichkeit und Vera, das Kind, klaubt ein paar Krümel vom Boden auf: Ein solches Nachkriegsbild erzählt von Macht, Ohnmacht und vom Hunger. Selbst ein banales Detail wie die Fütterung von Veras Hunden durch Marlene wird zu einem Fest für die Augen, aber es lässt sich auch etwas für die Geschichte erkennen – im prallen Szenenbild, das Veras Lebensraum charakterisiert. Ein Leitmotiv ist die alte Bank vor dem Hof: Hier saß einst der einsilbige Kriegsheimkehrer Karl als junger Mann, hier sitzt jetzt die nach ihrem Platz in der Welt suchende Anne (und sie scheint ihn endlich gefunden zu haben) und am Ende – ein Höhepunkt des Films – wird diese Bank der Ort einer Sterbeszene sein, dessen bedrückender Schlussakkord in einer zweieinhalbminütigen Einstellung von Kameramann Armin Golisano („Der Polizist und das Mädchen“ / „Kühn hat zu tun“) eingefangen wurde. Der Hang zur Mise en Scéne zeigt sich besonders in extremen Lebenssituationen. In einer vergleichsweise kurzen, aber eindringlichen Einstellung sieht man Veras Mutter, die ihre Tochter allein zurücklässt, wie sie im flotten Cabrio inmitten der Frühlingsblüte der Obstbäume mit ihrem wohlhabenden neuen Lebensgefährten von dannen prescht, und ein Kameraschenk holt die weinende Vera in dieselbe Einstellung hinein. Sehr nachhaltig sind auch einige Bilder, deren Sinn sich nicht sofort erschließt: der Flüchtlingszug im Winter, eine alte Frau, die auf einen alten Mann das Gewehr anlegt. Die Bilder sind verschwommen. Später sieht und erfährt der Zuschauer mehr. So von den beiden Brüdern Veras, die die Flucht nicht überlebt haben. Eine Einstellung, die sich darauf bezieht, prägt sich besonders ein: Nina Kunzendorf, Darstellerin von Marlene, die nach ihrer Vergangenheit sucht, werden die Bilder eines Dokumentarfilms über die Flucht aus Ostpreußen auf den Oberkörper projiziert. Und die Frau ist fassungslos darüber, was sie alles hören muss.

Altes LandFoto: ZDF / Georges Pauly
Noch einmal auf dieser geschichtsträchtigen Bank sitzen… Gute Altersmaske: Iris Berben und Milan Peschel

Im Grunde besteht der Zweiteiler fast nur aus Szenen und Bildern, die es in sich haben. Dazu kommt ein geradezu magischer Rhythmus, der Vergangenheit und Gegenwart verbindet, aber auch innerhalb der jeweiligen Zeit feine Akzente setzt. So sind die historischen Szenen keineswegs getragener, statischer oder Einstellungs-orientierter als die Szenen, die 1995 oder heute spielen. Im Gegenteil: Die Jahre der Ankunft am Hof werden in raschen, jedoch höchst situationsstarken, visuell überzeugenden Montagen auf den Punkt gebracht: Wut, Hass, Furcht, Zweckehe, Selbstmord – Das Leben zu dieser Zeit ist ein grausamer Fluss. Die Bilder sind besonders dunkel, wenn es Nacht ist, dunkel wie jene Jahre, mal rötlich, mal bläulich monochrom. Tagsüber dominiert ein betörendes Spiel von Licht und Schatten, das auch für die Inszenierung der Gegenwart gilt. Je mehr das Alte Land für Vera zur Heimat wird, umso wärmer strahlt das Licht. Eine weniger große ästhetische und farbliche Identität besitzen die Szenen in der Stadt und die der Nebenplots, die Stadtflüchtenden und die Landwirtfamilie.

Die filmische Anmutung der Erzählung ist insgesamt ausschnitthaft und poetisch, aber zeitgemäß und zupackend zugleich. Der narrative Motor sind die Charaktere. Die Autorin Hormann verzettelt sich aber nicht in deren Psychologie. Interessanter sind denn auch die mentalen Traditionslinien und die Interaktionen, das Miteinander, das lange Zeit ein Gegeneinander ist. Einziges kleines Manko: Sherry Hormann nahm offenbar an, der literarischen Vorlage die Nebenhandlungen schuldig zu sein. Auch wenn die flüchtenden Städter und das Landwirt-Ehepaar mit seiner Rasselbande einen launigen Kontrast zur ansonsten schwereren Tonlage herstellen und das Alte Land als (Sehnsuchts-)Ort vervollständigen, wirken diese doch eher wie ein Fremdkörper innerhalb dieses großartigen Generationenporträts einer zerrissenen Familie. Eine wichtige Rolle spielen im Übrigen dabei die Altersmasken. Sie erleichtern die Orientierung des Zuschauers in der Zeit, und sie wirken weniger befremdlich als in anderen Filmen. Am deutlichsten zeigt dabei Iris Berben, erfahren im Drehen mit Altersmasken, wie man Gang, Sprache und Tonlage an das Gesicht anpassen muss. 1996 ist ihre Vera noch sehr viel umgänglicher, ihre Körpersprache ist vital, und der Altersstarrsinn lässt noch auf sich warten. Aber auch in der Gegenwart darf Berben ihrer Hofbesitzerin feine Nuancen mitgeben. Am Ende zeigt sich die Figur wieder offener, zugänglicher, ein bisschen versöhnt. Mit ihren zarten Blicken voller Sehnsucht findet der auch von allen anderen Schauspielern wunderbar wahrhaftig gespielte Film ein stimmiges Ende.

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Mit Iris Berben, Nina Kunzendorf, Peter Kurth, Svenja Liesau, Milan Peschel, Maria Ehrich, Kilian Land, Marius Arendt, Marian Dilger, Birte Schöink, Karoline Eichhorn, Emilia Kowalski, Matthias Matschke, Lina Beckmann, Bernd Hölscher, Jacob Matschenz

Kamera: Armin Golisano

Szenenbild: Lars Lange, Axel Nocker

Kostüm: Jessica Specker

Schnitt: Sandy Saffeels

Musik: Jasmin Shakeri & Beathoavenz

Redaktion: Rita Nasser, Katharina Görtz

Produktionsfirma: UFA Fiction

Produktion: Benjamin Benedict, Matthias Adler, Sinah Swyter

Drehbuch: Sherry Hormann – Nach dem Roman von Dörte Hansen

Regie: Sherry Hormann

Quote: (1): 5,29 Mio. Zuschauer (14,6% MA); (2): 4,67 Mio. (13,7% MA)

EA: 15.11.2020 20:15 Uhr | ZDF

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