13 einsame Herzen wollen es mehr oder weniger noch einmal wissen. „Finden Sie mich attraktiv?“, fragen auf der Zielgeraden eines 7×7-minütigen Speed-Datings vor allem die in Ehren ergrauten Männer. Jetzt oder nie. Zwischen Ende 60 und Mitte 80 hat man keine Zeit mehr, das Gegenüber lange von sich zu überzeugen. Auch das gepflegte Abchecken des eigenen Marktwerts ist bei Maria, Christa, Kurt & Co allenfalls ein Nebeneffekt. An diesem Nachmittag halten die meisten ernsthaft Ausschau nach einem Partner, sei’s zum Kochen, Kuscheln oder ins Kinogehen. „Ich habe das Gefühl, dass mir ohne eine weibliche Partnerin der Rest meines Lebens misslingt“, sagt der Literaturliebhaber Helge. Einsamkeit, lange vermisste Zärtlichkeit, das Stillen einer tiefen Sehnsucht, das sind die Hauptgründe der Protagonisten dafür, sich bei dieser Singlebörse im Ambiente einer großbürgerlichen Villa einzufinden. Die zwei Freunde, die nur eine Haushälterin suchen, und eine Frau, die nach einem knackigen Zweit-Mann Ausschau hält für die leidenschaftlicheren Dinge des Lebens, sind da eher die Ausnahme. Die Anderen wollen die Früchte ihres dritten Frühlings ernten.
„Altersglühen – Speed Dating für Senioren“ reißt viele kleine Geschichten an über das Älterwerden, über Rollen- und Geschlechterbilder. Diese Geschichten geben Aufschluss über die vielfältigen Lebensstile innerhalb einer Generation, doch vor allem sagen sie: „Ich heiße Martha, Sergej, Leni etc. und ich bin einsam.“ So amüsant einzelne Momente, so kurzweilig die Repliken und so niederschmetternd komisch einige Protagonisten auch sein mögen, die Ausgangssituation kündet von der schmerzhaften Erfahrung, dass allen etwas fehlt in ihrem Leben. So ist dieses Szenario durchaus offen für eine tragikomische Lesart. Das ist bemerkenswert – handelt es sich bei Jan Georg Schüttes Film doch um eine Art Impro-Dramedy – entstanden ohne Drehbuch, ohne Schauspielerabsprachen untereinander, ohne Wiederholungen einzelner Szenen, und – man höre und staune – das Ganze wurde in zwei Tagen gedreht. Bei dieser Produktionsweise könnte man annehmen, dass Typenkomik und schnelle Lacher die Handlung anfeuern. In die komische Kerbe schlägt aber allenfalls Michael Gwisdek. Der hält vor allem zu Beginn den Laden am Laufen. Wo es anderen Kollegen schon mal die Sprache verschlägt oder sie eine gewisse Zeit brauchen, bis sie auf Betriebstemperatur sind – ihm fällt immer was ein. Und selbst wenn er sich das eine oder andere vorab zurechtgelegt haben mag, Sätze wie „für hinten raus wäre doch noch mal ’ne Frau nicht schlecht“ oder „Schon als Jugendlicher bin ich nicht zum Sex gekommen, weil ich zu viel gequatscht hab“ sind im Rahmen eines solchen Schauspielerimprovisationskonzepts Gold wert.
Foto: WDR / NDR / Georges Pauly
Mit bis zu 19 Kameras wurden diese Dates am Fließband begleitet. „Altersglühen“ ist ein echtes Fernsehexperiment. Aus 20 Stunden Film, was in diesem Fall 20 Stunden Gesprächsmaterial bedeutet, mussten im Schneideraum 85 Minuten werden. Die namhaften und zum großen Teil Theater erfahrenen Schauspieler wie Matthias Habich, Senta Berger, Mario Adorf, Jörg Gudzuhn, Christine Schorn oder Angela Winkler adeln das faszinierende Projekt und machen es sogar Primetime-tauglich. Ihre große Erfahrung mit Drama und Theaterbühne sorgt dafür, dass das Situationskomische immer wieder gebrochen wird von Momenten großer Wahrhaftigkeit. Und auch das filmische Timing dürften die meisten dieser Schauspieler verinnerlicht haben. Sie wissen, wann ein Regisseur in der Regel „aus“ sagt oder wann ein Cutter eine Szene schneidet. Sagt sie: „Ich liebe die Reiterei.“ Sagt er: „Ich hasse Pferde.“ Ein kurzer Blick in die Gesichter der beiden Protagonisten – und „Cut“. Etwas länger verweilt die Kamera auf den Gesichtern nach folgendem Dialogwechsel. Sie lächelt: „Ich bin Putzfrau.“ Er strahlt: „Das find’ ich gut…“ Eine andere Variante und Wink mit dem Zaunpfahl in Richtung Schnittmeister: „Man kann auch nett miteinander schweigen.“ Gesagt, getan.
Jan Georg Schütte über „Altersglühen – die Serie“:
„In den sechs Serienfolgen gehen wir mit jeweils einer Figur durch das ganze Setting, bleiben nur bei dieser Figur und zeigen, wie sie während dieser ganzen Begegnungen nach und nach wächst. In diesem Rahmen können wir auch noch die kleinen und feinen Momente berücksichtigen, die im Film nicht drin sein konnten, oder Themen, die innerhalb von 85 Minuten den Rahmen gesprengt hätten.“Christine Schorn über die Arbeitsweise ohne Drehbuch:
„Eine gewisse Biografie hatte man sich schon zurechtgelegt, beziehungsweise der Regisseur hatte es mit den Schauspielern so ein bisschen säulenartig zusammengestellt. Aber ansonsten hat man sich dann auf seinen Partner verlassen, dass dem nicht die Worte fehlten.“
Auch wenn viele Zuschauer nicht erkennen werden, dass dieser Film ganz anders entstanden ist als ein normales Fernsehspiel, unterscheidet sich die Rezeption einer solchen Impro-Produktion nicht unwesentlich von einem 90-minütigen TV-Drama. Der Film lädt sicher stärker als andere Genres und Formate zur 1:1-Betrachtung ein. Das Gesagte wird vom Zuschauer stärker mit der eigenen Erfahrung abgeglichen als das beispielsweise bei einem Krohmer-Nocke-Beziehungsstück der Fall ist, welches zwar auch mit viel Dialog arbeitet, aber dann doch nicht so viele gebündelte Lebenskonzepte, Haltungen und Mentalitäten nebeneinanderstellt. Mit dem Identifikationsgrat steigt möglicherweise auch der Fremdschämfaktor. Je mehr man etwas kennt, umso größer mitunter die schamhafte Abwehr. Da man als Zuschauer aber nicht selbst am Tisch mitschwitzen muss, können solche peinlichen Situationen in einem Film wie „Altersglühen“ höchst lustvoll empfunden werden. „Genieße den Augenblick“, so die Maxime einer solchen Dramaturgie. Für den Verlauf des Speed Dating im Film heißt das: 80 Minuten große Fernsehunterhaltung. In den letzten Minuten allerdings wird die Neugier, das Bedürfnis zu wissen, wie es „ausgeht“ – sprich: wer wen kriegen könnte, nur unzureichend befriedigt. Das ist der Vemouthstropfen, den man schlucken muss: Allerdings nur gut 24 Stunden lang. Einen Tag später nämlich bekommt man von den ersten beiden der sechs Dating-Teilnehmer, deren Begegnungen Schütte noch einmal ausführlicher in 25-minütigen Episoden zusammenfasst, genauere Einblicke in die Gesprächsverläufe des Nachmittags. Das dürfte weitere Aufschlüsse darüber geben, zwischen welchen „Goldies“ es am heftigsten gefunkt hat. (Text-Stand: 8.10.2014)