„Lügen haben kurze Beine. Aber auf denen kann man auch schnell laufen.“ Hajo Siewers (Bastian Pastewka) verkauft seine Lebensphilosophie gern als Pointe. Weil er ein Scherzkeks ist. Und weil er in einem Autohaus arbeitet; da gehört Flunkern zum Geschäft. „Ich leb‘ seit Jahren über meine Verhältnisse, weil es sich damit so viel besser lebt.“ Ein Satz, der ausnahmsweise die Wahrheit ist, gesagt ausgerechnet in einem Verkaufsgespräch. Obwohl Hajo einigen Erfolg hat mit seiner großspurigen Masche, steht der notorisch unpünktliche Mitarbeiter kurz vor der Entlassung. Seine Chefin (Pina Kühr) hat ihm eine letzte Chance gegeben. Weil aber der Sohnemann (Arthur Gropp) in Papas Fußstapfen zu treten scheint, weil seine Frau Vera (Katrin Wichmann) immer ungehaltener reagiert auf seine Unzuverlässigkeit und weil er sich aus einer zweiten Verkehrskontrolle nicht wieder so dreist herauslügen kann, hilft nur noch eine Königslüge: „Meine Frau … die ist tot.“ Statt Entlassung folgen warme Worte. Abends steht sogar eine Kollegin vor der Tür, um zu helfen. Doch so leicht wie die gutgläubige Birgit (Lina Beckmann) lassen sich andere, beispielsweise der Mann seiner Chefin (Holger Stockhaus) oder Kommissar Friedländer (Tim Seyfi), nicht an der Nase herumführen. Der Lügenbaron muss immer schneller laufen. Hoffentlich stolpert er nicht.
Obwohl dieser unverbesserliche Hajo in „Alles gelogen“ jedem das Blaue vom Himmel verspricht oder herunterlügt, gehört ihm das Mitgefühl des Zuschauers. Drehbuchautor und Produzent Ralf Husmann („Vorsicht vor Leuten“) hat einst mit „Stromberg“ das Comedy-Fremdschämen im deutschen Fernsehen gesellschaftsfähig gemacht. In dieser ZDF-Komödie wird daraus eine Art Fremd-Bibbern, ein Mitfiebern mit der Hauptfigur, deren ungebührliches Verhalten ständig aufzufliegen droht. Dass das Ganze so perfekt funktioniert, das liegt insbesondere an Bastian Pastewka. Der hat sich schließlich in 99 Folgen der Comedy „Pastewka“ durch die Peinlichkeiten des Alltags gemogelt, ein Beziehungs-Analphabet und Medien-Nerd, der ein ziemlicher Kotzbrocken sein konnte, bis ihm gegen Ende sein Leben um die Ohren flog. Komprimiert auf 90 Minuten erzählt der Film von Erik Haffner eine ähnliche Geschichte. Und wie in der Serie der Medienmensch Pastewka bleibt auch Hajo Siewers liebenswert, ein Hochstapler von der charmanten, freundlichen Art. Ein Spaßvogel in der Midlifecrisis, der sich seinen unbefriedigenden Job im Autohaus, sein Leben, seine Familie, sein schmuckes Häuschen schön quasseln muss. Ein Mann, dem das Lügen zur zweiten Natur geworden ist und dem die Unwahrheiten einfach so aus dem Mund heraussprudeln.
„Alles gelogen“ ist neben einer aberwitzigen Charakterstudie auch eine typische Verwechslungskomödie, in der ein Missverständnis die nächste Peinlichkeit jagt. Und Pastewkas Figur ist nicht der einzige Lügner: Viele flunkern, einige sind boshaft, andere emotional lebensuntüchtig („Tod, das ist wie Sushi: überhaupt nicht mein Ding“) und die meisten zur falschen Zeit am falschen Ort. Eine so wunderbare Old-School-Komödie ist hierzulande eine Seltenheit. Pastewkas „Mutter muss weg“ (ZDF, 2012) war auch so eine, etwas absurder, tragikomischer, subtextreicher als sein neuer TV-Streich. Doch auch „Alles gelogen“ bietet mehr als temporeiche Situationskomik. Ähnlich wie Muttersöhnchen Tristan (oder der Alles-super-Dauer-Grinser Ted Lasso aus der gleichnamigen US-Erfolgsserie) ist Hajo Siewers kein glücklicher Mensch. Möglicherweise merkt er es gar nicht. Er leidet ja auch nicht an einer elternbedingten Traumatisierung, stattdessen langweilt ihn sein Leben so sehr, dass er es ständig aufhübschen muss. Dazu gehören auch diese kleinen Lügen, Bluffs und Flunkereien, mit denen er sein Ego und sein Dasein aufwertet. Doch dann kommt die „Königslüge“ und mit ihr ein Schlammassel, aus dem es kein Entrinnen gibt. Und nebenbei gefragt: Was hätte wohl Freud zu der Todes-Ausflucht gesagt? Die für tot Erklärte stellt sich dann auch erst mal tot, was den Sohn verunsichert und den Kommissar Böses befürchten lässt.
Auch wenn Pastewka und Husmann überraschenderweise noch nie zusammengearbeitet haben: Es passt zwischen den beiden. Und nichts anderes hat man erwartet. „Alles gelogen“ ist kein Gag-Feuerwerk wie „Pastewka“, es ist eine Filmkomödie, keine Comedy. Der Witz steckt in den Situationen, die Möglichkeit, dass das Lügengebäude zusammenbricht, dominiert die Handlung, verbale Gags werden beiläufig gesetzt („Was ist’n hier los? Ist ja eine Stimmung, als hätt‘ ich was gekocht“) und Pastewkas Körperkomik kommt realistisch im Vorbeigehen ins Spiel. Für tragikomische Akzente sorgt Lina Beckmann als lange Zeit bemitleidenswerte Kollegin aus dem Autohaus, für die Hajo sich die „süßesten“ Lügen ausdenkt und ihr damit die Augen öffnet und Mut macht für „ihre“ Wahrheit. Und auch Katrin Wichmann („Sörensen“-Filme) als Vera Siewers harmoniert ganz prächtig mit Pastewka. Qualität steckt auch in der cleveren Verdichtung der immer komplizierteren Situationen und in der Art und Weise, wie hier die dramaturgische Konvention „verhinderte Beichte“ im Gegensatz zu vielen anderen Komödien variiert wird. Und auch wenn das Ende ein bisschen unentschlossen – oder sollte man sagen „realistisch“ – daherkommt: Das Schöne an der Lüge, ja, ihr Wert für ambivalente Geschichten, ist das Prinzip der relativen Offenheit. Man weiß nie genau, was gelogen ist und was nicht.