Wilde sieben Jahre lebte der Medizinstudent Vince (Benito Bause) zusammen in einer WG mit Levo (Arash Marandi). Nun aber zieht es den Webdesigner in die Vorstadt – zu seinem neuen Partner Tom (Mads Hjulmand). Der hat nicht nur einen lukrativen Job, sondern auch ein Haus im Grunewald. Tom hat sich erst vor kurzem zu seinem Coming-Out bekannt. Levo ist sein erster Lover. Wird er auch seine einzige Liebe bleiben? Vince indes hat es nicht so mit der kuscheligen Zweisamkeit. Es vergeht kaum eine Club-Nacht, in der er nicht einen coolen Typen abschleppt. Aber jetzt, da sein bester Freund aus dem Haus ist, macht sich der ewige Nachtschwärmer plötzlich so seine Gedanken: Vielleicht wäre mit Ende 20 ja doch mal was Dauerhaftes angebracht. Und so hat er nichts dagegen, dass seine neueste Eroberung keine seiner üblichen Sex-Episoden bleibt, sondern sich mit dem ehemaligen Fitnesstrainer Robbie (Frédéric Brossier) mehr zu ergeben scheint. Dass dieser Sozialstunden ableisten muss, weil er offenbar ein massives Eifersuchts- und Gewaltproblem hat, weiß er lange zu verbergen. Geheimnisse hat bald auch das andere Pärchen. Monogamie frisst offenbar die Liebe auf.
„All You Need“ ist die erste öffentlich-rechtliche Dramedy, die fast ausschließlich von schwulen Charakteren erzählt. Nach frühen Billig-Nischen-Soaps wie „Berlin Bohème“ (Offene Kanäle, 1999-2006) oder der Sitcom „Bewegte Männer“ (Sat 1, 2003-2005), dem Dosenlacher-Spin-Off des Neunziger-Kinohits, kam die letzten fünfzehn Jahre nicht mehr viel von der LGB-Front. In jungen Serien wie „Dark“ oder „How To Sell Drugs Online (Fast)“ geht es zwar sexuell zunehmend diverser zu, selbst Mainstream-Serien wie „Unter uns“, „Vorstadtweiber“ oder „Dr. Klein“, ja sogar Reihen wie „Nord bei Nordwest“ kommen nicht mehr ohne schwule oder lesbische Charaktere aus, und mit Mark Waschkes Karow hat es in den „Tatort“ immerhin ein bisexueller Kommissar geschafft. Eine Serie aber, die ganz aus der Lebensrealität homosexueller Männer erzählt und dabei aus der Erfahrungswelt der schwulen Community schöpft, hat es bisher bei ARD und ZDF nicht gegeben. Ausgerechnet die jahrelang wegen ihrer „Kitschfilme“ gerügte Degeto hat bereits 2015 mit dem Fernsehfilm „Vier wollen ein Kind“ die Primetime für zwei gleichgeschlechtliche Paare geöffnet und mit „Mein Sohn Helen“ im selben Jahr das LGB um das „T“ erweitert. Jetzt ist es auch die ARD-Tochter, die gemeinsam mit der UFA Fiction „All You Need“ initiiert hat. Die Mediathek-First-Kampagne und der Spartensender One machen es endlich möglich, dass auch Special-Interest-Programme – weitgehend ohne Quotendruck – in der ARD eine Chance bekommen.
Im Presseheft feiern die Macher das Projekt also nicht ganz zu Unrecht. Und schaut man sich diese 5×25-minütige Dramedy ohne Berücksichtigung internationaler Serien aus dem LGBTIQ-Bereich an, beispielsweise die bildgewaltigen „Pose“ oder „Euphoria“, dann haben wir es hier immerhin mit einer für deutsche Verhältnisse recht kurzweiligen Serie zu tun, die mit einigen Klischees über Schwule aufräumt (es gibt auch platonische Freundschaften), die in ihren Sexszenen nicht zu weichgespült und trotzdem auch für heterosexuelle Zuschauer goutierbar ist, auch weil sie zeigt, dass homo- und heterosexuelle Lebenskonzepte nicht völlig konträr sind, schwule Männer nicht immer nur an Sex denken und dass auch sie die Frage „Single oder feste Beziehung?“ an der Schwelle zu den Dreißigern umtreiben kann. Sogar ein Hetero-Love-Zitat aus „Notting Hill“ darf Vince zum Besten geben. Die Besetzung ist durchweg gut, sie bedient wie auch die Figuren nicht zu deutlich Gay-Stereotype – und wenn es doch mal „schwuchtelig“ wird, dann gehört dies zum Selbstbild der betreffenden Person, wird entsprechend thematisiert und hat auch im Rahmen der Dramaturgie eine gewisse Logik: So verändert sich Levo durch seine feste Beziehung im vorstädtischen Spießerparadies deutlich, ja vielleicht ein bisschen zu deutlich in Richtung männliches „Tunten-Weibchen“ im goldenen Käfig. Clever ausgedacht ist vor allem Tom: Der Ex-Familienvater ist Novize in diesem eigenwilligen Kosmos aus Leder und Lack, Schwulensauna und Sadomaso-Shop, und er ist damit auch für heterosexuelle Zuschauer*innen ein guter Türöffner ins fremde Milieu.
Haupt- und Sympathiefigur ist allerdings – auch ohne moralisch einwandfreies Verhalten – Vince, gespielt von Benito Bause. Der junge Mann lässt es gern krachen, ist intelligent und eloquent und muss nicht jedem gleich seine Überzeugung und sein Schwulsein unter die Nase reiben. Und das aus gutem Grund: „Ich bin nicht nur schwul, ich bin auch schwarz“, muss er Robby, der seiner intoleranten Umgebung ständig den Stinkefinger zeigt, ein ums andere Mal klar machen. Der war ein schwules dickes Kind, und er wurde ständig gemobbt. Heute hat er alles abgelegt, was ihn angreifbar macht. Er ist durchtrainiert – und wie Vince würde man ihn auf der Straße nicht unbedingt für schwul halten. Vince macht deutlich, dass er „kein Schisser“ ist, aber eben auch schwarz ist – „ein Leben lang“. Die Schnittpunkte von Rassismus und Sexismus treffen sich in „All You Need“ immer dann sehenswert, wenn die beiden ihre Erfahrungen bereden oder wenn sie ob ihres unterschiedlichen Verhaltens in Streit geraten (nach einem Kioskbesuch oder dem Händchenhalten unter den Blicken homophober Jugendlicher). Oder wenn ein Satz mit einem Bild korrespondiert („Hast Du ‚Get out‘ gesehen?“). Plump geraten dagegen Versuche, den alltäglichen Rassismus und Sexismus zu zeigen, die Vince und Levo entgegenschlagen: So gibt es eine Anmache in einer Schlange an einer Kasse („da, wo Sie herkommen …“) oder eine beleidigende Nachbarin, die Levo immerhin zu einer frechen Replik verleitet („Wenn du weder kochen noch backen kannst, dann beeindrucke ihn mit Analsex. Und ich war in der Küche noch nie besonders gut“).
Solche mit der moralischen Keule verabreichten Szenen sind ein Grund, weshalb es deutsche Dramedys beim jungen Popculture-orientierten Publikum mitunter schwer haben. Vor allem die britische Konkurrenz sollte langsam auch den Fernsehmachern hierzulande die Augen öffnen. Zwischen nicht nur formattechnisch so unterschiedlichen Serien wie „Fleabag“, „State of the Union“, „Pure“, „Catastrophe“, „After Life“ oder „Sex Education“ und aktuellen deutschen Produktionen wie „Frau Jordan stellt gleich“, „MaPa“, „Mirella Schulze rettet die Welt“, „Spätzle arrabbiata oder Eine Hand wäscht die andere“, oder der – in Ansätzen originellen – Mockumentary „Andere Eltern“ liegen Welten. „All You Need“ macht zumindest einiges besser. Die Dialoge lösen sich nur gelegentlich – der Knackigkeit wegen („Mir ist scheißegal wie groß deine Wohnung ist, Hauptsache du hast ‘nen großen Schwanz“) – von den Charakteren ab. Der Soundtrack kann sich hören, der Look sehen lassen – wobei das allzu Clippige der Inszenierung wohl dem Kurzformat geschuldet ist. Genauso wie die dramaturgische Klammer zwischen den Intros und der letzten Folge: Das ist durchaus filmisch originell umgesetzt und weckt Neugier (Was macht die Hauptfigur mit seinem Drink im Pool?!), entspricht aber eben auch der Kurzatmigkeit der Serie und besitzt etwas Künstliches. Ein Manko ist das knapp bemessene Format. Wer mehr Zeit zur Verfügung hat, könnte einen breiteren Zugang in den schwulen Berliner Kosmos wählen – und damit anders erzählen: nicht so, dass man immer gleich weiß, weshalb es eine Szene in eine Folge geschafft hat. Etwas mehr Metropolen-Milieu kann auch nicht schaden – und auch wenn die vier Charaktere stimmig wirken – gegen die Flut der Themen und Plot-Points haben sie keine Chance.
Es müssen ja nicht gleich acht Folgen à 45 Minuten sein! Einen solchen Luxus konnte sich der renommierte Produzent und Autor Russell T. Davies („Dr. Who“ / „A Very English Scandal“ / „Years and Years“) mit seiner Serie „Cucumber“ (2015) leisten, die aus der Sicht eines schwulen fortysomethings-Ex-Pärchen erzählt wird. Der Pionier des LGBTQ-Genres begann 1999 mit der legendären Skandal-Serie „Queer as Folk“, deren Idee er in die USA verkaufte, wo es der etwas softere Ableger gleichen Titels auf satte 83 Folgen brachte. „Cucumber“, nicht weniger provokant als seine früheren Werke, steht in bester Brit-Dramedy-Tradition, wird getragen von einem unprätentiösen Realismus mit trockenem Wortwitz und bissig-ironischem Understatement. Zeitgleich durfte Davies noch eine zweite Serie produzieren, „Banana“, die einige sehr viel jüngere Nebenfiguren der Hauptserie in acht losen, ebenso bizarr-aberwitzigen wie feinsinnigen Short Stories im 25-Minuten-Format porträtierte. Autor und Regisseur von „All You Need“, Benjamin Gutsche („Arthurs Gesetz“), hat sich in einigen Details von Davies Arbeiten inspirieren lassen, und er dürfte auch die anspruchsvolle US-Serie „Looking“ kennen, eine Dramedy mit Betonung auf Drama, in der drei schwule Freunde die LGBTQ-Szene von San Francisco durchstreifen. Sie nehmen sich Zeit, die Kamera folgt ihnen unaufgeregt im Gestus des amerikanischen Independent-Kinos, episodisch, wenig dramatisch – und diese Serie hat mehr noch als Davies filmischer Manchester-Reigen etwas, was „All You Need“ schmerzlich vermissen lässt: Sie atmet die raue Würze einer Szenestadt.
Randbemerkung: Hierzulande gab es durchaus ein paar (sehr) gute Dramedys, allerdings meist im 45-Minuten-Format wie der Grimme-Preis-gekrönte Klassiker „Doctor’s Diary“ (2007-2010) oder die leider nicht fortgesetzte ARD-Serie „Frau Temme sucht das Glück“ (2017). „Falk“ (ab 2018) oder die Vox-Serien „Milk & Honey“ (2018) und „Lucie. Läuft doch“ (2020) können sich zumindest sehen lassen. Und im Kurzformat gibt es auch ein paar Ausreißer nach oben wie „Komm schon!“ (2015) und „Blaumacher“ (2017), die beide bei ZDFneo ein einmaliges Vergnügen blieben, oder „Merz gegen Merz“ (seit 2019). Und auch aktuell gibt es eine großartige Dramedy: „Tilo Neumann und das Universum“ (TVNow) mit Christoph Maria Herbst, die besonders deutlich macht, wie schwach doch momentan die Konkurrenz ist. Das große Manko: Der Boom der Mediatheken und der damit verbundene Trend, auf einen möglichst massenweisen Output hin, also schnell & relativ preiswert, zu produzieren, sind nicht unbedingt qualitätsfördernd.