Ein Schweizer Diplomat versucht im Jahr 1938, einen Mann nachts über die grüne Grenze von Österreich ins eigene Land zu schleusen. Die beiden stapfen an einer seichten Stelle des Alt-Rheins durchs Wasser und werden von einer österreichischen Grenzstreife entdeckt. Der Flüchtling kehrt um, es fallen Schüsse. Der Diplomat, Vize-Konsul in Bregenz, wird auf der anderen Seite aufgegriffen und muss nach einer Nacht im Gefängnis dem Schweizer Bundespolizisten Robert Frei Rede und Antwort stehen. Dieser will vor allem an die Namen der Hintermänner dieser illegalen Fluchthilfe für Juden gelangen. Bei dem eloquenten Konsul kommt er nicht weiter, doch ein Schweizer Grenzpolizist, der ein jüdisches Ehepaar mit falschen Papieren in die Schweiz bringen wollte, plaudert schließlich den Namen aus: Paul Grüninger, Hauptmann der St. Galler Kantonspolizei.
Regisseur Alain Gsponer und Autor Bernd Lange lassen sich Zeit, ehe sie die Titelfigur von „Akte Grüninger“ einführen. Ein etwas sperriger, aber kluger Einstieg, weil er erst einmal nicht diesen „Oskar Schindler der Schweiz“ in den Mittelpunkt stellt, sondern die täglichen Dramen, die sich nach dem „Anschluss“ Österreichs und der nun auch dort einsetzenden Drangsalierung von Juden an der Grenze abgespielt haben. Immer wieder kehrt der Film an die Grenze zurück und erzählt – ergänzt von dokumentarischen Bildern und kurzen, inszenierten Episoden, etwa der Gewalt in der Pogromnacht im November 1938 – von den unterschiedlichen Phasen der Judenverfolgung und vom Umgang mit Flüchtlingen. Diese Szenen werden dramaturgisch geschickt als Rückblenden in den Dialog zwischen Grüninger und dem eifrigen Bundespolizisten Frei eingeflochten. Faszinierende Rededuelle sind das nicht unbedingt, und einige dieser erläuternden Passagen wirken wie didaktische Fremdkörper.
Allerdings gibt es, insbesondere für Nicht-Schweizer, tatsächlich Erklärungsbedarf. Unter dem Druck wachsender Flüchtlingszahlen nach dem Anschluss Österreichs schloss die Schweiz im August 1938 die Grenzen. Im Film wird die Debatte darüber im Berner Bundeshaus zwischen Ministern und Polizeidirektoren in Szene gesetzt. Es ist eine Debatte mit antisemitischen Untertönen: „Mit der zunehmenden Verjudung haben die Probleme in Deutschland erst richtig angefangen“, sagt etwa Heinrich Rothmund, der Chef der Fremdenpolizei. Flüchtlinge müssen fortan zurückgeschickt werden – ein Drama, das Grüninger an der Grenze beobachtet und nicht teilnahmslos lässt.
„Akte Grüninger“ ist ein historisches Lehrstück und ein wenig auch ein Schweizer Sittengemälde, ein Drama, das mal kammerspielartig, mal wie ein Agentenkrimi und auch mal schulmeisterlich daherkommt. Kein großes Kino, eher eine ungewöhnliche Mixtur. Die Zeitsprünge fordern den Zuschauern mehr ab, als es im herkömmlichen Geschichtsfernsehen üblich ist. Trotzdem reduzieren Gsponer und Lange die durchaus komplexe Erzählung gekonnt auf ihren Kern. In der Schweiz hatte der Film die Kontroverse über die damalige Haltung der Bundesregierung wieder aufgewühlt. Umstritten ist etwa die Darstellung, dass die Schweiz selbst den deutschen Behörden vorgeschlagen habe, die Pässe der Juden zu kennzeichnen. Auch die im Abspann genannte Zahl der 30.000 zurückgewiesenen Flüchtlinge sei in Wahrheit deutlich geringer gewesen, kritisierte die „Weltwoche“. Doch jenseits solcher Details geht es hier um zeitlose Fragen, um Mitmenschlichkeit und Moral, um das Abwägen von geltendem Recht und eigenem Gewissen. Da ist man schnell in der Gegenwart gelandet, und so ist es wohl auch gemeint, wenn am Schluss der Schauspieler Max Simonischek uns Zuschauern durch die Kamera direkt ins Gesicht blickt. Ein eigentlich unnötiges Statement, denn auch so erzählt „Akte Grüninger“ eine eindrucksvolle, bewegende Geschichte. Simonischek spielt den Ermittler Robert Frei, der eine fiktive, aber mindestens ebenso interessante Figur ist wie Grüninger. Frei ist ein junger Polizist mit besten Karriere-Aussichten, geschickt und bisweilen rücksichtslos im Verhör. Grüninger, vom großartigen Stefan Kurt als korrekter, verschlossener Beamter gespielt, leugnet nicht, sondern versucht, Frei auf seine Seite zu ziehen. „Was wir machen, ist kein Unrecht“, sagt er. Manche Buchsätze sind etwas plakativ, doch Kurt spielt den spröden Grüninger ohne hohles Pathos.
„Akte Grüninger“ als reine Anklage der Schweiz zu lesen, wäre ein Missverständnis. Denn neben Grüninger gibt es hier noch mehr Menschen, die sich dem Beschluss aus Bern tatkräftig widersetzen oder ihn stillschweigend ignorieren. Die anderen Fluchthelfer, aber auch die Bürger des Ortes, in dem in einer leer stehenden Fabrik das immer größer werdende Flüchtlingslager eingerichtet wird. Die einzelnen Flüchtlinge selbst gewinnen allerdings kaum Kontur, dennoch ist das bittere Ende der konzentrierten Inszenierung Gsponers schwer erträglich. Bis 1995 brauchte die Schweiz, um Paul Grüninger, der in Israel als „Gerechter unter den Völkern“ geehrt wird, zu rehabilitieren. (Text-Stand: 29.9.2014)