Die Zwillingsschwestern Anna (Saskia Rosendahl) und Benni (Hanna Hilsdorf) sind hauptberuflich Cyberaktivistinnen. Gemeinsam betreiben sie die anonyme Plattform Climate Leaks, auf der sie Umwelt- und Klimaverbrechen aufdecken. Die beiden ergänzen sich: Anna ist das Hacker-Genie, während Benni oft vor Ort hohes Risiko eingeht; so schleuste sie sich gerade in eine Putzkolonne ins Verkehrsministerium ein, nachdem von ihrer Schwester dort das Sicherheitssystem geknackt wurde. Beide träumen bereits vom Rücktritt des korrupten Verkehrsministers. Ihr Patenonkel Christoph (Peter Kurth), der nichts von ihren Aktivitäten weiß, winkt ab: Mit illegal beschaffenen Daten erreiche man gar nichts. Er muss es wissen als Leiter der Cybercrime-Abteilung vom BKA. Auch er war offenbar in jungen Jahren politisch aktiv, genauso wie die Ziehmutter der beiden (Julika Jenkins), die in dem Wäldchen lebt, das einem fragwürdigen Autobahnprojekt geopfert werden soll. Für die „Erwachsenen“ ist Benni das Sorgenkind der Familie, während Anna als die Vernünftige gilt, die mit ihren IT-Kenntnissen immerhin den Lebensunterhalt für beide erwirtschaftet. Als die jungen Frauen auffliegen, hat zunächst Anna das größere Problem: Während Benni aus der gemeinsamen Wohnung flüchten kann, wird sie festgenommen und sitzt in U-Haft.
Extrem dramatisch und packend beginnt die sechsteilige Cybercrime-Thriller-Serie „A Thin Line“, das zweite deutschsprachige Original des neuen Streamers Paramount+. Noch ziehen die Schwestern an einem Strang, wobei bereits die unterschiedlichen Mentalitäten und Wertmaßstäbe der beiden deutlich werden. Anna ist das Hirn, die Introvertierte, die gewissenhaft recherchiert und Informationen journalistisch gegencheckt. Benni indes ist der Motor ihrer gemeinsamen Aktionen. Sie ist impulsiv, urteilt vorschnell und mit ihrer kompromisslosen Art und unbändigen Wut ist sie prädestiniert für einen radikaleren Weg. Während der Hacker-Angriff auf das Verkehrsministerium letztlich scheitert, Anna sogar Wiki Leaks vom Netz nehmen muss, ist ein digitaler Angriff einer anderen politischen Gruppierung mit dem gleichen Ziel sehr viel effektiver. Dummerweise wird der nun auch den beiden Schwestern zur Last gelegt. Für Anna gibt es nur zwei Alternativen: entweder auf unbestimmte Zeit in der U-Haft versauern oder für das BKA als V-Person arbeiten. Als sich die flüchtige Benni der Aktivisten-Gruppe „Der letzte Widerstand“ (Hadewych Minis, Aniol Kirberg) anschließt und diese einen lebensbedrohlichen Anschlag auf eine Raffinerie verübt, ist Annas Entscheidung gefallen. Für sie kommt der Einsatz von Gewalt nicht in Frage. Möglicherweise kann sie mit ihrem Hacker-Knowhow eine tödliche Explosion vereiteln.
Das politische Thema, der aktive Kampf für Umwelt- und Klimaschutz, wird in „A Thin Line“ heruntergebrochen auf eine private Geschichte. Dadurch wird der Konflikt zwischen gewaltlosem Widerstand und der Bereitschaft, den Tod von Menschen in Kauf zu nehmen („Es wird immer Opfer geben“), emotional verdichtet. Zu der Schwestern-Geschichte hinzu kommt die anfangs undurchsichtige familiäre Situation, die Nähe zu dem Patenonkel und zu dieser Frau, die eine Art Mutter für die beiden Schwestern ist. Und dass Anna und Benni Zwillinge sind, sorgt für eine weitere natürliche Dramatisierung. Das Verhältnis der Schwester zueinander lässt sich nach ihrer Trennung nur erahnen. Von einer gestörten Symbiose ist allerdings auszugehen, besonders was Benni angeht („Die haben mich alle verraten“). Anzunehmen ist auch der gefühlte Verlust der „Vollständigkeit“. Auch weiß man nie ganz genau, wo die beiden stehen. Benni beispielsweise protestiert anfangs lautstark gegen Aktionen mit möglichen Toten, später setzt sie durch, dass jene größten deutschen Umweltsünder, an denen ein Exempel statuiert werden sollen, zumindest keine Kinder haben dürfen. Und bei Anna weiß man nie, wie groß ihre Loyalität dem Rechtsstaat gegenüber tatsächlich ist. Mag sie Stella (Lucia Kotikova), das BKA-Nachwuchs-Brain, so wie diese offensichtlich sie oder dient ihr Annäherung einem höheren Zweck? Vielleicht ist die Liebe zu ihrer Schwester ja für die verschlossene Anna das Größte im Leben. Selbst Patenonkel Christoph, kein BKA-Hardliner wie sein Kollege Simon (Sebastian Hülk), fühlt sich ein Stück weit den alten Familienbanden verpflichtet. Obwohl oder vielleicht gerade weil sich die Schwestern erst in der fünften Folge „Wie weit wirst du gehen?“ wiedersehen, liegt eine prickelnde Dauerspannung über der Szenerie. Die erhöht sich durch eine lustvolle Prise Mehrwissen auf einer weiteren Beziehungsebene: So gibt es ab der dritten Folge überraschend eine Liaison zwischen einer Terroristin und einem BKA-Mann.
„A Thin Line“ wird als Cyberthriller verkauft. Fesselnd wie ein Thriller sind die viereinhalb Stunden; aber in erster Linie bietet die Serie der Showrunner Jakob D. und Jonas Weydemann („Systemsprenger“), Head-Autorin Stefanie Ren („Für Jojo“) sowie Sabrina Sarabi („Prélude“) und Damian John Harper („9 Tage wach“) auf dem Regiestuhl ein Drama vom Feinsten. Wozu andere Serien in diesem Winter wilde Plot-Konstruktionen („Gestern waren wir Kinder“), ein unübersichtlich großes Ensemble („Asbest“) oder ein, zwei Folgen zu viel benötigen („Der Scheich“, „Tage, die es nicht gab“), das meistert diese Serie mit zwei Hauptdarstellerinnen und sechs tragenden Nebenfiguren. Die allerdings sind durchweg perfekt besetzt und stark in ihrer Performance. Und die stets überzeugende Saskia Rosendahl („Fabian oder Der Gang vor die Hunde“) und in ihrer ersten Hauptrolle Hanna Hilsdorf („Stumme Schreie“), ähnlich eigenwillig wie einst Maria Kwiatkowsky, verkörpern die beiden Seiten des ungleichen Zwillingspaars brillant. Ob als hibbelige Benni oder als paralysierte Anna – die Physis dominiert, die Bilder sprechen. Häufig zeichnet die Kamera die Befindlichkeiten der beiden Frauen nach: Dringlich bis nervös folgt sie den Aktivistinnen in Folge eins, „Climate Leaks“. Später verlagert sich die Action ins Innere der Figuren – selbst die hyperaktive Benni scheint trotz gesteigerter Gewaltbereitschaft einen Gang herunterzuschalten.
Als Zuschauer kommt man nicht umhin, die Haltungen der Figuren im Film moralisch zu werten. Und dennoch bleibt man trotz aller emotionaler Spannungen (oft begleitet von einem mal pulsierenden, mal stimmungsvollen Electro-Score) eher ein Beobachter als ein Nur-Mitfühlender. Die Handlung führt die Entwicklungen der beiden Zwillingsschwestern konsequent zu Ende. Nicht nur im Stile eines coolen Thrillers, sondern als semiversöhnliche Tragödie. Die Charaktere sind die Träger der Geschichte. Familiengeheimnisse gibt es auch hier. Sie werden aber weder zum dramaturgischen Großereignis hochgetunt noch trivial psychologisiert. Es gibt sie einfach. So wie es Diversität in der Gesellschaft gibt. Wie ein Soldat Terrorist oder Polizist werden kann. Wie eine Rollifahrerin auch Sex hat – und das in einem Film natürlich zeigen kann. Eigentlich sollte es nicht der Rede wert, sondern Normalität sein. In vielen TV-Produktionen wirken solche Diversitäts-Codes wie Signale. In „The Thin Line“ ist das anders. Das liegt vor allem an dem Spiel und der Grundtonlage, die die Sinnlichkeit des Genrekinos eindrucksvoll mit Arthaus-Tiefgang kombiniert.