„Es passiert wirklich: Die Knackis kommen raus“, verkündet der Radiomoderator munter. In Rheinstadt öffnen sich die Tore des Gefängnisses, 300 Häftlinge werden entlassen und vor dem Rathaus mit Applaus, Fähnchen und Luftballons empfangen als wären sie heldenhafte Heimkehrer. Am Rande protestiert zwar eine kleine Gruppe von Opfer-Angehörigen, aber die Idee einer Welt ohne Gefängnisse wird erstmals als Pilotprojekt in einer rheinischen Großstadt Wirklichkeit, weil sie sowohl von der Politik als auch von einer Mehrheit der Bevölkerung mitgetragen wird – vorerst. Zwei Jahre haben die Juristin Petra Schach (Maria Hofstätter) und ihre Mitstreiter:innen des Vereins „Trust“ darauf hingearbeitet, unterstützt von dem jungen Oberbürgermeister Amir Kaan (Steven Sowah). Nun sollen sich Betreuer:innen um jeden frei gelassenen Häftling kümmern. Wohnungen, Arbeits- und Therapieplätze stehen bereit, außerdem müssen entlassene Knackis zu Täter-Opfer-Mediationen erscheinen. Ausnahmen gibt es keine: Auch der rechtsextreme Klaus Bäumer (Richard Sammel), der einen 15-jährigen Jungen aus einer deutsch-türkischen Familie erschlug, und der pädophile Sexualstraftäter Jens Föhl (Ulrich Brandhoff) kommen frei.
Das fiktionale Szenario mag in seiner radikalen Konsequenz abwegig erscheinen, aber die achtteilige Serie „A Better Place“ von Showrunner Alexander Lindh und Co-Headwriter Karin Kaçi knüpft durchaus an eine lange Diskussion über den Sinn des herrschenden Strafrechtssystems an. Die Abolitionismus-Bewegung, die für eine Welt ohne Gefängnisse kämpft, wurzelt im Kampf gegen die Sklaverei in den USA seit dem 18. Jahrhundert. Noch heute sind in den Vereinigten Staaten überdurchschnittlich viele Schwarze in den überfüllten Gefängnissen inhaftiert. Aber auch in Deutschland wird immer mal wieder die Forderung nach einer Reform laut. So schrieb der Augsburger Jurist und Kriminologe Thomas Galli, der zeitweise die Justizvollzugsanstalten Zeithain und Torgau leitete, im Jahr 2020 das Buch: „Weggesperrt. Warum Gefängnisse niemandem nützen.“ Politisch durchsetzbar ist ein Strafrechtssystem ohne Gefängnisse auf absehbare Zeit wohl kaum. Aber erfreulich ist allemal, dass sich der WDR und seine Partner an das selten bespielte Genre „Social Fiction“ wagen, noch dazu mit einem kontroversen Thema, das zuverlässig populistische Schaumschläger auf den Plan rufen dürfte.
Plakative Parteinahme kann man der von Anna Zohra Berrached und Konstantin Bock gemeinsam inszenierten Serie sicher nicht vorwerfen. Das Regie-Duo inszeniert das in einem mehrköpfigen Writer’s Room entstandene Drehbuch als realistisches Gegenwartsszenario, also ohne neuartige Zukunftstechnologien oder vorangegangene gesellschaftliche Umbrüche. Passend das Szenenbild: Die fiktive Kulisse Rheinstadt verströmt den überschaubaren Charme echter NRW-Städte, was kein Wunder ist, denn zum Beispiel das Rathaus samt Umfeld wurde im Zentrum von Leverkusen gedreht. Dafür kommen nun Reporter aus aller Welt. Die Medien-Öffentlichkeit wird außerdem mit Video-Schnipseln und Social-Media-Posts miteinbezogen, was insbesondere gegen Ende noch eine wichtige Rolle spielen wird – eigentlich überraschend spät. Die politische Ebene beschränkt sich auf die Figur des Oberbürgermeisters, ab Folge vier übt Justizministerin Anneke Hammerschmidt (Cordula Stratmann) in einer zunehmend aufgeheizten Stimmung Druck auf Kaan aus. Die Besetzung mit der in komischen Rollen populären Stratmann erweist sich allerdings als wenig überzeugend. Auch Jasna Fritzi Bauer wirkt in ihrer Nebenrolle der kleinkriminellen Kosmetikerin Jessica nur wie ein Proll-Klischee. Das passt nicht wirklich zu der ansonsten sehr ernsthaften und teils erstklassig gespielten Dramaserie. In dem interessant und divers besetzten Ensemble beeindrucken vor allem auch weniger prominente Namen wie Johannes Kienast, Alev Irmak, Youness Abbaz und Aysima Ergün. In starken weiblichen Nebenrollen sind zudem Sandra Borgmann als „Trust“-interne Konkurrentin von Chefin Schach sowie Cynthia Micas als Psychologin Lydia Sané zu sehen.
Die exzellente Kamera von Matthias Fleischer sorgt für eine intensive Nähe zum Geschehen und zu den Figuren. Auch bleibt die Spannung durchgängig auf einem hohen Niveau, gerade weil den persönlichen und familiären Konflikten ausreichend Raum gewährt wird. Ein Überfall auf ein Juweliergeschäft und weitere Wendungen liefern jedenfalls genügend Stoff für acht Episoden. Das politische Szenario wird dagegen eher auf das Nötigste reduziert. Ganz davon abgesehen, dass der Strafvollzug in der Realität nicht im Zuständigkeitsbereich einer einzelnen Kommune liegt, bleibt weitgehend offen, wie sich OB Kaan und die Überzeugungstäterin Schach gegen Widerstände durchgesetzt haben. Dass die Vorgeschichte ausgeklammert wird, macht aus dramaturgischen Gründen dennoch Sinn. Eingeführt werden Kaan und Schach durch einen Auftritt in einer Talkshow, in der sie von Nesrin Gül (Alev Irmak), der Mutter des von Bäumer getöteten Jungen, mit zornigen Vorwürfen konfrontiert werden. Die Opfer-Perspektive zu berücksichtigen, ist natürlich unumgänglich. Und wie sich die Figur der Mutter entwickelt, die über den Verlust ihres Sohnes zu verzweifeln droht, gehört zu den stärksten Handlungssträngen der Serie. Außerdem muss die von ihrem Mann misshandelte Veronika (Katharina Behrens) nun befürchten, ihrem Peiniger plötzlich wieder auf der Straße zu begegnen.
Ohnehin sind es die unterschiedlichen Charaktere und ihre Geschichten, die für Spannung und zahlreiche emotionale Höhepunkte sorgen, teils erstklassige Cliffhanger inklusive. Dass auch Mörder und Sexualstraftäter freikommen, mag dabei irritieren und ist sicher besonders unrealistisch, ist aber auch eine notwendige Zuspitzung, weil die Vorbehalte gerade auf die Freilassung von Menschen zielen dürften, die schwere Straftaten begangen haben. Die resolute Schach, deren Frau in Wien lebt, nimmt vorübergehend den schweigsamen Bäumer bei sich zu Hause auf. Der verurteilte Mörder zeigt freilich kein Interesse an Resozialisierung. Und Sexualstraftäter Föhl, der kurz vor der Freilassung noch von Mithäftlingen verprügelt wurde, nimmt zwar Medikamente und kommt zu Therapiesitzungen, allerdings scheint bei ihm das Selbstmitleid größer zu sein als Reue und Einsicht. An seinem neuen Wohnort wird er freundlich empfangen, aber damit ist Schluss, als die Namens- und Adressen-Listen der frei gelassenen Straftäter in die Öffentlichkeit gelangen.
Differenziert und eindringlich erzählt werden vor allem zwei weitere Handlungsstränge aus unterschiedlichen Milieus: Katharina Schüttler spielt Eva Blum, die sich bei „Trust“ engagiert und gleichzeitig selbst Angehörige eines entlassenen Straftäters ist. Ihr Mann Mark (Johannes Kienast) gibt sich redlich Mühe, um das Vertrauen seiner Frau und der beiden Kinder zurückzugewinnen. Was Mark eigentlich verbrochen hat, bleibt lange Zeit unklar, was ebenfalls zum hohen Spannungsniveau beiträgt. Fest entschlossen, sein Leben in den Griff zu bekommen, ist auch Nader Massad (Youness Abbaz), der sich als Verkäufer in einem Autohandel mächtig ins Zeug legt und dort außerdem die attraktive Milane (Berfin Sömnez) kennenlernt. Wären da nicht seine Schwester Yara (Aysima Ergün) und Naders alte Gang aus der Südstadt um den schmächtigen Brian (Constantin von Jascheroff), die das neue Motto „Freistadt Rheinstadt“ als Freibrief für weitere Überfälle missverstehen. Wer erwischt wird, bleibt ja dennoch auf freiem Fuß.
Sind die Bürgerinnen und Bürger also nur „Versuchskaninchen für so eine Gutmenschen-Phantasie“, wie der von Aljoscha Stadelmann gespielte „besorgte Bürger“ später behauptet? Die Serie prangert die durch Fake News gezielte Mobilisierung des Volkszorns an, scheut aber keineswegs die unpopulären Folgen, die mit einem Modell à la „Trust“ verbunden wären. Es berührt zweifellos das Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung und das Gerechtigkeitsgefühl der Opfer und ihrer Angehörigen. Am Ende wird mit einer Talkshow-Szene noch einmal Bilanz gezogen. Das wirkt ein bisschen so, als wollte man das Publikum für die Idee einer Welt ohne Gefängnisse doch noch gewinnen. Als besonders eindrucksvoll bleiben jedoch eher die Szenen in Erinnerung, in denen sich Opfer und Täter im Rahmen einer Mediation begegnen. Die eigentliche Stärke von „A Better Place“ ist, eine differenzierte und teilweise auch Mut machende Erzählung über den Umgang mit persönlicher Schuld und über zwischenmenschliches Vertrauen geschaffen zu haben. (Text-Stand: 4.1.2025)