Ein Stück deutsche Medizingeschichte in einer historischen Krankenhausserie
Am Anfang war anlässlich der 300-Jahrfeier der Charité im Jahre 2010 eine Doku-Fiction angedacht, am Ende ist es nun, neun Jahre nach der ersten Idee, eine Spielfilmserie geworden. „Charité“ geht zurück in das Dreikaiserjahr 1888, in dem vier Forscher, davon drei spätere Nobel-Preisträger, dem Berliner Krankenhaus zu einem wissenschaftlichen Höhenflug in der ganzen Welt verhalfen: Rudolf Virchow (1821-1902), Pathologe, Prähistoriker und ein sozialpolitischer Visionär; Robert Koch (1843-1910), der Entdecker des Tuberkuloseerregers und des vermeintlichen Heilmittels Tuberkulin; Emil Behring (1854-1917), Immunologe und Serologe, dessen Diphterie-Forschung ihn in der Öffentlichkeit zum „Retter der Kinder“ machte; Paul Ehrlich (1854-1915), Fachmann für experimentelle Therapie und mit seinen Forschungen Wegbereiter der Chemotherapie. Den medizinischen Errungenschaften, mit denen man im Namen des Kaisers gegen die ausländische Konkurrenz zu Felde ziehen wollte, steht die medizinische Versorgung gegenüber, die bittere Realität in einem Armenkrankenhaus, ohne Licht und ohne fließendes Wasser. Die neu gegründeten Krankenkassen riefen ob der unzumutbaren hygienischen Zustände in jenen Jahren sogar zum Boykott auf. Auch Schmerzen waren an der Tagesordnung. Anästhesie und Desinfektion steckten noch in den Kinderschuhen. Nur wenige Patienten kamen aus diesem Haus der Barmherzigkeit im Herzen von Berlin lebend wieder heraus. Die meisten fanden ihre Bestimmung allenfalls – ganz zum Wohle der Forschung – als menschliche Versuchs- oder Demonstrationsobjekte.
Große Ärzte, Pflegerinnen & eine emanzipierte junge Frau zwischen den Welten
Die sechs 50-minütigen Folgen der ARD-Event-Serie erzählen von den Eifersüchteleien und Konkurrenzkämpfen unter jenen vier namhaften Ärzten, den unzumutbaren Zuständen im Pflegebereich, den Infektionskrankheiten, die damals die häufigsten Todesursachen waren, und den erbärmlichen Lebensbedingungen insgesamt. Aber auch politische Tendenzen, der aufziehende Nationalismus, der erstarkte Antisemitismus und sozialistische Ideen hinterlassen am Rande ihre Spuren. „Charité“ gibt ein umfassendes Bild vom Leben im Kaiserreich. Es waren harte Zeiten. Mitgefühl war ein rares Gut. Der Narzissmus der „Götter in Weiß“ obsiegte über Nächstenliebe und Mitmenschlichkeit. Das Pflegepersonal aus Diakonissen und weltlichen „Wärterinnen“ erscheint als eine Gegenwelt, die stärker von Mitleid und Empathie geprägt wird. Die Autorinnen Dorothee Schön und Sabine Thor-Wiedemann setzen hier auf frei erfundene Figuren, Frauen, die Gottes Wort predigen (Oberin Martha), die sich nicht nur sozial, sondern auch politisch engagieren (Wärterin Edith), die aufgerieben werden zwischen Gottesfurcht und intimen Bedürfnissen (Schwester Therese). Und da ist auch die junge Frau, aus deren Blickwinkel das Treiben an diesem Krankenhaus erzählt wird: Hilfswärterin Ida Lenze, die beinahe an einer Blinddarmentzündung gestorben wäre. Sie muss die Behandlungskosten in der Charité abarbeiten und entdeckt dabei ihre Liebe für die Medizin – und für zwei Männer, Emil Behring, der sie operiert und damit ihr Leben rettet, und Medizin-Student Georg Tischendorf, dessen Herz für die Kunst – insbesondere die Fotografie – schlägt. Als Pionierin der Frauenemanzipation ist jene Ida Lenze die einzige 100%ige Identifikationsfigur. Sie besitzt das, was man heute „emotionale Intelligenz“ nennt, darüber hinaus Eigenschaften, von denen man sich die wenigsten im Jahr 1888 als Frau leisten konnte: Courage, Selbstbestimmtheit, Ehrgeiz, Leidenschaft für die Medizin. „Demut und Fügsamkeit sind ihre Sache nicht“, heißt es in der Serie einmal über sie. Anmut dagegen besitzt diese Frau, der Alicia von Rittberg ihre Schönheit und ihr schauspielerisches Talent schenkt.
Foto: ARD / Nik Konietzny
Der Mikrokosmos Krankenhaus liefert viele Geschichten und spiegelt die Zeit
Diese erste deutsche historische Krankenhausserie ist prall gefüllt mit Geschichten aus der medizinischen Forschung und der Krankenpflege, gleichsam geht es um Gefühle, Liebe und geheime Leidenschaften, um interne Machtkämpfe, mangelnde Anerkennung und die beschwerliche Finanzierung von Forschung, Lehre und Heilung, um eine völlig unzureichende Patientenversorgung, um autoritäre Strukturen und strenge Sitten. Keine gesellschaftliche Strömung wird ausgelassen und das, was den Alltag & die Kultur (Fotografie, Presse) damals auszeichnete, fließt mehr oder weniger beiläufig ein in die Handlung: dass beispielsweise Frauen in Deutschland nicht nur der Arztberuf versagt bleibt, ja dass sie nicht einmal einer medizinischen Vorlesung beiwohnen dürfen, dass die Charité nicht an die Kanalisation angeschlossen ist oder die Reichen sich aus gutem Grund lieber zuhause behandeln lassen. Auch stehen – anders als in heutigen Klinikserien – keine romantischen Heilungsgeschichten im Mittelpunkt, mehr erzählt wird von Misserfolgen und medizinischen Rückschlägen.
Reale Biographien, die man nicht spannender hätte erfinden können
Die Autorinnen mussten den historisch verbürgten Figuren nicht viel andichten: Deren reales Leben war reich an dramatischen Wendungen. So erlebt der Tuberkulose-Papst Robert Koch in der Serie seinen schwindelerregenden Aufstieg, bevor er tief fällt, und die Liebschaft des verheirateten Mannes mit einer 17-jährigen Nachwuchsschauspielerin erregt kaum weniger Aufsehen in der Öffentlichkeit und sorgt in der Serie für zwischenmenschliche Turbulenzen und eine originelle Form der Annäherung: Der Herr Professor schenkt der Schönen als erstes eine „bakteriologische Abhandlung über Dessous“. Emil Behring litt unter manisch-depressiven Schüben, was man vor 130 Jahren noch mit dem Krankheitsbegriff „periodisches Irresein“ doppelt strafte; da war der Weg zur Opiumabhängigkeit freilich kein weiter. Der Jude Paul Ehrlich hatte nicht nur Probleme mit der Judenfeindlichkeit in Deutschland, sondern auch mit dem zur Selbstüberschätzung neigenden Behring. Auch der Konflikt, den Rudolf Virchow ins Spiel bringt, ist real: So verstand der politisch fortschrittliche, aber medizinisch eher rückständige Pathologe den Kochschen „Bazillenzirkus“ tatsächlich nicht. „Und dass ausgerechnet Arthur Conan Doyle, Arzt und Erfinder von ‚Sherlock Holmes’, nach einem Besuch an der Charité als Erster über den ‚Tuberkuloseschwindel’ im Daily Telegraph berichtete, ist auch nicht von uns erfunden“, merkt Dorothee Schön im Presseheft an.
Foto: ARD / Nik Konietzny
Erhabener Stoff, ernsthafter Ansatz, historische Fakten statt Sog & Magie
Der Zuschauer bekommt viel erzählt in den 300 Filmminuten dieser thematisch hoch interessanten Serie. Vielleicht ist es ja die Erhabenheit des Stoffes, die Steifheit des gesellschaftlichen Umgangs anno 1888 oder nur die historische Distanz, die „Charité“ wie ein Fernsehprogramm für den Bildungsbürger erscheinen lassen. Die Medizingeschichte triumphiert über die Gesetze der Seifenoper, die Hochkultur über die Lust am Trivialen. So erfreulich diese Ernsthaftigkeit zur TV-Primetime ein Mal ist, so schade ist es doch auch, dass die Serie mit tiefen, universellen Emotionen geizt. Bei aller Hochachtung diesem Mammut-Projekt gegenüber: den Sog, den historische Miniserien wie „Weißensee“ oder „Ku’damm 56“ zu erzeugen imstande sind, besitzt „Charité“ nicht. Familie und Tanzschule sind gewiss anschlussfähiger, aber es liegt nicht nur am spröderen Milieu. Wer amerikanische History-Medicals wie „Masters of Sex“ oder „The Knick“ kennt, weiß, was dieser ARD-Serie fehlt: magische Beziehungen, Unausgesprochenes, transzendente Welten, die sich hinter der abgebildeten Wirklichkeit (in der Phantasie) des Zuschauers auftun, Figurenentwicklungen, die mehr sind als wohlfeile Läuterungen. Das Zauberwort ist „Interaktion“. Jede Figur hat hier zwar ein klares Profil, erfüllt eine durchgängige Funktion (als gesellschaftlicher Stellvertreter) innerhalb der Dramaturgie und Konfliktpolitik, aber Entwicklungen bleiben äußerlich, und zwischen den rund zehn tragenden Charakteren wird viel zu wenig über Bande gespielt.
Mit mehr Sendezeit hätte die Serie ihre Möglichkeiten besser nutzen können
Wer sich nicht für (Medizin-)Geschichte interessiert, könnte trotz Alicia von Rittbergs herzallerliebsten widerspenstigen Engels im Zentrum von „Charité“ die Lust an dieser Serie verlieren. Sicher, wären die sechs Episoden weniger vollgepackt mit Personal, Handlung und Konflikten, dann hätten die Autorinnen den Charakteren mehr Eigen-Sinn und Spiel-Raum geben und die wichtigsten Beziehungen mit sinnlichen Subtexten aufladen können. Doch für ein Sittenbild des Kaiserreichs, ja selbst für den Mikrokosmos Krankenhaus darf keine dieser Geschichten fehlen. Auch auf die historischen Fußnoten, auf die kleinen Informationen am Rande, die kurzen Ausflüge in Politik, Zeit- und Alltagsgeschichte hätte man keineswegs verzichten können. Ebenso hätte man auch das Personal nur schwer reduzieren können. So ist es am Ende ein Formatproblem. Die genannten US-Serien haben doppelt bis dreimal so viel Sendezeit. Mit zwei, drei Episoden mehr, hätte diese Miniserie sehr viel besser ihre Möglichkeiten entfalten können. Und mit ein bisschen mehr Fiction und ein bisschen weniger deutscher Faktengründlichkeit hätte man „Charité“ noch ein wenig „spannender“ und sicher auch für den internationalen Markt attraktiver gestalten können. So sieht diese Serie am Ende ziemlich deutsch aus. Denn das Format und die Machart sind vor allem dem Sendeplatz im Ersten und den Sehgewohnheiten des öffentlich-rechtlichen Publikums geschuldet. Gerade hat man sich eingesehen in diese befremdliche Epoche, hat die Figuren kennengelernt und einigermaßen „liebgewonnen“, da ist es auch schon wieder vorbei. Und der Schluss lässt einen nicht annehmen, dass die ehrenwerten Herren und diese mutige junge Dame eine zweite Chance – sprich Staffel – bekommen. Und ob man sich in der ARD an die Nazi-Klinik des Schreckens wagen wird, ist wohl auch (leider) eher zu bezweifeln. (Text-Stand: 25.2.2017)