Niemand wird Schauspieler, um immer nur als Schönling besetzt zu werden. Für Jannik Schümann war es daher vermutlich ein enormer Fortschritt, als er endlich Schurken spielen durfte, zumal seine Rolle beispielsweise in „Homevideo“ durch den Kontrast zwischen attraktivem Aussehen und miesem Verhalten umso reizvoller wurde. Dank seiner weichen Gesichtszüge war er in dem anspruchsvollen ARD-Freitagsfilm „Mein Sohn Helen“ die perfekte Besetzung als Junge, der eigentlich ein Mädchen ist. Mit „9 Tage wach“ aber dürfte sich für den immer noch jungen Schauspieler (Jahrgang 1992) ein Traum erfüllt haben. Das Drogendrama nach dem gleichnamigen Roman des „GZSZ“-Darstellers Eric Stehfest ist ein Film wie ein Rausch, und Schümann – unrasiert und dank Raspelfrisur und Narbe im Gesicht betont maskulin – ist immer mitten drin. Endlich darf er eine Rolle spielen, wie sie sonst meist dem gleichaltrigen Jannis Niewöhner vorbehalten blieben, der in „Maximilian – Das Spiel von Macht und Liebe“ (ZDF) oder der Amazon-Serie „Beat“ stets die harten Kerle verkörpern durfte. Wenn Eric, aufgeputscht durch Crystal Meth, in die zuckenden Lichter der Clubwelt eintaucht und seinen trainierten Oberkörper vorführt, wirkt „9 Tage wach“, als habe sich Regisseur Damian John Harper die entsprechenden Szenen aus „Beat“ sehr genau angeschaut.
Foto: Pro Sieben / Stephanie Kulbach
Die Adaption des Romans, an der neben Stehfest selbst auch der Regisseur sowie Fabian Wiemker beteiligt waren, lässt den ersten Teil des Buchs mit Erics Jugend, einer enttäuschten Liebe, seiner frühen Bekanntschaft mit der Droge und der Zeit bei der Bundeswehr komplett weg, verzichtet dadurch aber auch auf eine Begründung für seine zehn Jahre währende Abhängigkeit. Der Film beginnt mit einer guten Nachricht: Eric, 24, ist an der Schauspiel-Schule angenommen worden. Die Aussicht auf eine geregelte Ausbildung bewahrt ihn vor dem Gefängnis; wegen diverser Delikte wären nach einem versuchten Diebstahl drei Jahre Knast fällig, aber er kommt ein letztes Mal mit einer Bewährungsstrafe davon. Als er Anja (Peri Baumeister) kennenlernt, eine Frau, mit der er sich eine Familie vorstellen kann, lässt er endlich die Finger von Crystal Meth. Die beiden ziehen aus der ostdeutschen Provinz nach Berlin. An der Akademie der darstellenden Künste trifft Eric auf einen Mann, der sein Leben verändern wird: Karl Hoffmann (Martin Brambach) ist Lehrer mit Leib und Seele und erkennt das große Potenzial, das in dem Jungen schlummert. Es gelingt ihm, Eric aus seinem Schildkrötenpanzer zu locken. Als Anja schwanger wird, könnte alles perfekt sein …
„9 Tage wach“ wäre für jeden Sender ungewöhnlich, weil Harper das episodisch konzipierte TV-Movie ohne Rücksicht auf typische TV-Gewohnheiten inszeniert, zumal Eric alle nur denkbaren Gefühlslagen durchlebt. Der Film ist sehr laut, und das nicht nur dank der Club-Beats. In den Übungen der Schauspielschüler wird ohnehin viel geschrien, und die Premiere von Tschechows „Möwe“ gerät dank Erics Gebrüll zum Desaster. Nur schwer auszuhalten sind auch die Bilder von Erics Entzug, als er in der Klinikdusche gleichzeitig kackt und kotzt, während eine Pflegerin den Dreck ungerührt mit einem Schlauch wegspritzt. Gespielt ist das alles jedoch vorzüglich. Schümann ist bei den vielen Exzessen, die er sehr glaubwürdig verkörpert, sichtlich an seine Grenzen gegangen und liefert hier die wohl beste Leistung seiner Karriere. Nicht minder intensiv ist Peri Baumeister als Freundin Anja, die gern ein Tattoo-Studio aufmachen würde. Schon früh weckt Erics bester Freund (Matti Schmidt-Schaller) Zweifel an ihrer uneingeschränkten Liebe. Als Eric zufällig herausfindet, wie sie ihren Lebensunterhalt verdient, zeigt sich, dass seine Welt nur auf tönernen Füßen stand.
Foto: Pro Sieben / Stephanie Kulbach
Soundtrack:
The Moody Blues („Nights In White Satin“), Hartbrand („Brunst”, „Utopia”), Big Brother & The Holding Company („Piece of My Heart”), The Cure („Pictures Of You”), David Lynch („I Want You”), Dolly Parton („Jolene”), Jefferson Airplane („White Rabbit”), Eurythmics („Who’s That Girl”, „Sweet Dreams”), Emma Elisabeth („What A Waste”), The Rolling Stones („Wild Horses”)
Die reine Handlung hätte sich sicher auch als Mittwochsfilm im „Ersten“ erzählen lassen, aber die Umsetzung mit ihrem stellenweise fast experimentell anmutenden stakkatoartig geschnittenen Bilderrausch sprengt im Grunde jeden Bildschirm. Dass der Film seine Premiere im Berliner Zoopalast feiern darf, ist absolut angebracht: Auf großer Leinwand kann „9 Tage wach“ seine ganze Wirkung entfalten. Gänzlich untypisch nicht nur für eine TV-Produktion, sondern generell fürs deutsche Filmschaffen ist auch die Körperlichkeit, und das gilt nicht allein für Schümann; die Athletik, die Peri Baumeister für ihre Rolle mitbringen musste, dürfte ebenfalls das Ergebnis entsprechenden Trainings sein. Davon abgesehen liegt ein großer Reiz des Films in seinem Kontrastreichtum, und zwar inhaltlich, optisch und akustisch: hier die innigen Liebesszenen, dort die hässliche Trennung; hier die emotionalen Momente in der Schauspielschule, dort die Drogenexzesse; hier die sehr bewusst und mit konkretem Bezug zur Handlung eingesetzten Klassiker der Pop- und Rockgeschichte (Moody Blues, Rolling Stones, Jefferson Airplane), dort industrieller Techno, beides verbunden durch die Filmmusik von Karim Sebastian Elias. Besonders verblüffend ist eine musikalische Mischszene mit Schümann und Baumeister: In Erics Welt erklingt „Nights In White Satin“ von den Moody Blues, auf Anjas Bühne läuft der Eurythmics-Hit „Sweet Dreams“.
Foto: Pro Sieben / Stephanie Kulbach
Trotzdem ist „9 Tage wach“ ein Schauspielerfilm, wenn auch weniger wegen Heike Makatsch und Benno Fürmann, die ein wenig im Stereotyp ihrer Rollen steckenbleiben: sie als Mutter und Sozialarbeiterin, die viel von Liebe spricht, er als Stiefvater, der es als seine Aufgabe betrachtet, Eric Grenzen zu setzen. Ganz unbedingt aber neben Schümann und Baumeister wegen Martin Brambach als Lehrer, der weiß, wie sich ein totaler Absturz anfühlt, und der mit seiner Forderung nach Emotionen auf den Punkt bringt, was diesen Film ausmacht: Hass, Wut, Trauer, Ekel, Freude. Wie Harper und Kameramann Cristian Pirjol diese Gefühle in Bilder fassen und vermitteln, ist weit entfernt vom Fernsehalltag. Pirjol hat für den ProSieben-Schwestersender Sat 1 zuletzt bei „Jung, blond, tot – Julia Durant ermittelt“ (2018) für eine außergewöhnliche Bildgestaltung gesorgt und zuvor bei „Das Nebelhaus“ (2017) eine eindrucksvolle Thriller-Atmosphäre erzeugt. Der Amerikaner Harper lebt seit knapp zwanzig Jahren in Deutschland und hat ab 2006 an der HFF in München Dokumentarfilmregie studiert; sein Drama über einen Irakkriegsveteranen, „In the Middle of the River“ (2018), ist mit dem Förderpreis Neues Deutsches Kino prämiert worden. ProSieben-Redakteur Patrick N. Simon ist allerdings schon durch den Kurzfilm „Teardrop“ (2011) auf Harper aufmerksam geworden. Der Film habe ihn damals „durch seine herausragende Visualität und Schauspielführung beeindruckt.“ Für „9 Tage wach“ suchte die Redaktion einen Regisseur, „der in seiner Inszenierung eine authentische Nähe zu den Schauspielern herstellt und eine stilistisch szeniastische Bildgewalt herstellen kann.“ Harper wird sie nicht enttäuscht haben.