Für die einen ist die Erinnerung ein Paradies, für andere die Hölle; und dann gibt es noch Menschen, die für die Wahrheit halten, was nie passiert ist. Erinnerungen sind kein Abbild der Wirklichkeit, außerdem lassen sie sich leicht manipulieren; und manchmal manipuliert sich das Gehirn auch selbst. Von all’ dem handelt die raffiniert konstruierte achtteilige Kammerspielserie „8 Zeugen“, in der eine promovierte Rechtspsychologin gleich mehrfach an ihre Grenzen stößt und schließlich erkennen muss, dass sie allen Fachkenntnissen zum Trotz nicht mal selbst gegen die bösen Streiche gefeit ist, die einem das Gedächtnis mitunter spielt.
Schon die Rahmenhandlung der Drehbücher von Regisseur Jörg Lühdorff und Koautor Janosch Kosack (die Idee hatten Lühdorff und Produzent Christian Rohde) ist interessant. Gerade erst hat sich Jasmin Braun (Alexandra Maria Lara), Spezialistin für Gedächtnisforschung, den Unmut der gesamten Berliner Polizei zugezogen, weil sie als Gutachterin die kompletten Ermittlungsergebnisse eines Falls für unbrauchbar erklärt hat. Nun soll sie auf ausdrücklichen Wunsch des Innensenators eine Sonderkommission unterstützen: Jemand hat im Naturkundemuseum eine Rauchbombe geworfen und die Verwirrung genutzt, um die zehnjährige Tochter des Politikers zu entführen. Normalerweise stützt sich Braun bei ihrer Arbeit ausschließlich auf protokollierte Aussagen, weil sie weiß, dass jede Interaktion Einfluss auf die Erinnerungsleistung von Zeugen hat. Diesmal geht das jedoch nicht: Emma hat Diabetes, sie braucht Insulin; die Befragungen sind auch ein Wettlauf gegen die Zeit. Dass die Soko-Mitglieder der Psychologin, deren Erläuterungen gern mal in komplizierte Vorträge ausarten, mit erheblichen Vorbehalten begegnen, macht ihre Aufgabe nicht leichter.
Foto: RTL / Hardy Brackmann
Ein besonderer Reiz der Serie, die sich größtenteils in der zum Befragungsraum umfunktionierten Museumsbibliothek abspielt, liegt in der Binnendramaturgie des Konzepts: Die circa 25 Minuten langen Folgen bauen zwar aufeinander auf, sind aber in sich abgeschlossen, weil sich Braun auf jeweils eine Zeugin oder einen Zeugen konzentriert. Die Psychologin versucht, das Vertrauen ihrer Gesprächspartner zu gewinnen, weshalb sie oft erst mal selbst etwas von sich preisgeben muss; quid pro quo, wie auch Nicht-Lateiner seit „Das Schweigen der Lämmer“ wissen. Mal wendet sie Tricks an, um die gesuchte Information zu bekommen, mal tappt sie in typische Gedächtnisfallen, und einmal gerät sie sogar komplett aus der Fassung, als ein Kollege den Spieß kurzerhand umdreht. Clever und stets plausibel zögern die Drehbücher die Preisgabe der gesuchten Information regelmäßig bis zum jeweiligen Episodenschluss hinaus, der dann auch dank der effektvoll eingesetzten Musik (Chris Bremus) prompt zum Cliffhanger wird.
Soundtrack:
Sophie Hunger („House Of Gods“, „Monday’s Ghost”), Future feat. Drake, Da Baby & Lil Baby („Life Is Good”), The Teskey Brothers („So Caught Up”), ITG Studios feat. Laura Lou („Capture My Soul”), Celeste („Stop This Flame”)
Unabdingbare Voraussetzung für das Funktionieren einer derartigen Konstellation ist die Auswahl der Schauspielerinnen und Schauspieler, denn jeder Episodengast wird automatisch Hauptdarsteller. Zunächst geht es in den Gesprächen um die Rekonstruktion des Moments der Entführung. Erste Zeugin ist Emmas kolumbianisches Kindermädchen (Nilam Farooq), die an diesem Nachmittag ins Museum gelockt worden ist und das Kind für ein paar Minuten allein gelassen hat. Über Literaturstudentin Johanna (Hanna Plaß), die bei ihren Schilderungen zu einer gewissen Blumigkeit neigt, führen die Befragungen schließlich zu einem jungen Mann (Rauand Taleb), der als Wärter im Museum arbeitet. Er gehört zu den Halbas, einem arabischen Gangster-Clan, dem der Senator im Nacken sitzt. Für Soko-Leiter Dietz (Ralph Herforth) ist der Schuldige damit gefunden, aber erst Kellnerin Theresa (Milena Tscharntke) bringt die Ermittler auf die richtige Spur. Der Preis dafür ist jedoch hoch, zumindest aus Sicht von Jasmin Braun: Um der jungen Frau den Namen ihres vermeintlichen Freundes zu entlocken, muss die Wissenschaftlerin gegen ein ehernes ethisches Prinzip verstoßen. Weil sie sich damit angreifbar gemacht hat, kann Psychologieprofessor Felsner (Sylvester Groth) sie mit ihren eigenen Waffen schlagen, aber das ist nur der Anfang ihres eigenen Absturzes, der in einen Gänsehautmoment gipfelt, als klar wird, dass ihre Mitwirkung bei den Ermittlungen nichts mit ihrer Profession zu tun hat; der Innensenator (Johann von Bülow) kennt sie nicht mal. Eine SMS-Botschaft der Entführer richtet das Augenmerk der Ermittler schließlich auf ein Ereignis, dass sich vor langer Zeit auf Rügen zugetragen hat. Der Schlüssel zur Lösung des Falls befindet sich also in der Vergangenheit. Die Spannung erreicht ihren Höhepunkt, als sich herausstellt, dass die SMS aus dem Museum geschickt worden ist.
Foto: RTL / Hardy Brackmann
Neben der cleveren Konzeption, den ausnahmslos ausgezeichneten darstellerischen Leistungen – eine wichtige Rolle spielt außerdem noch Céci Chuh als junge Kollegin des Einsatzleiters – liegt eine weitere Qualität in der Bildgestaltung: weil Lühdorff und Kameramann Philipp Timme die bildsprachlich eher undankbaren Gesprächssituationen durch Schnitte und Schwenks sowie Änderungen der Perspektive oder der Einstellungsgröße abwechslungsreich auflösen. Dass Lühdorff bei den Erzählungen der Zeugen auf Rückblenden verzichtet, hat möglicherweise finanzielle Gründe; es wäre interessant gewesen, wenn er ähnlich wie Akira Kurosawa im Klassiker „Rashomon“ (1950) auch optisch verdeutlicht hätte, wie unterschiedlich die Wahrnehmungen sind. Stattdessen illustriert er die Schilderungen durch Detailaufnahmen und akustische Elemente.
Lühdorff hat neben Beiträgen zu Krimireihen fürs ZDF auch die „Doku-Fiction“-Dramen „2030 – Aufstand der Alten“ und „2030 – Aufstand der Jungen (2007/2011) und zuletzt für den WDR „Verunsichert – Alles Gute für die Zukunft“ (2020) gedreht, ein sehenswertes Drama mit Henny Reents als Versicherungsjuristin, die sich mit ihrem früheren Arbeitgeber anlegt. „8 Zeugen“ ist sein ambitioniertestes Werk, zumal ihm das Kunststück gelingt, die durchgängig hohe Spannung der Serie ohne die üblichen Krimizutaten zu erzeugen. Die einzige kritische Anmerkung gilt dem Prolog, als Jasmin Braun in einem drei Minuten langen und zum Teil umständlich formulierten Monolog sich selbst und ihre Arbeit einführt. Vorbild für die Rolle ist die deutsch-kanadische Rechtspsychologin Julia Shaw; die Autorin des Buchs „Das trügerische Gedächtnis. Wie unser Gehirn Erinnerungen fälscht“ hat auch als Beraterin fungiert. Die Serie wird voraussichtlich noch dieses Jahr bei Vox zu sehen sein.