Die Serie beginnt wie eine der vielen Reality-Reihen, für die der Kinderkanal (Kika) bekannt ist: Sechs Jugendliche werden an einem Bahnhof abgeholt und mit einem Kleinbus zu einer Hütte gebracht, wo sie einheitliche Kleidung erhalten; ihre eigenen Sachen müssen sie zurücklassen. Als sich einer lautstark beschwert, wird er kurzerhand wieder zum Bahnhof gefahren: Die Jungs sind straffällig geworden und rechtskräftig verurteilt. Das Experiment, an dem sie teilnehmen, ist eine erzieherische Alternative zur Jugendstrafanstalt; die nächsten sechs Wochen werden sie zusammen mit zwei Sozialarbeitern auf einer Almhütte ohne Strom und fließendes Wasser verbringen. Smartphones, Alkohol und Zigaretten sind verboten. Die Jugendlichen müssen den Haushalt führen und einfache Arbeiten verrichten; in therapeutischen Gesprächsrunden sollen sie ihre Taten reflektieren.
Es gab schon diverse Filme über „Bootcamp“-Einrichtungen dieser Art, aber die richteten sich meist an ein erwachsenes Publikum. Für den öffentlich-rechtlichen Kinderkanal ist „5vor12“ daher ein in mehrfacher Hinsicht ungewöhnliches Projekt. Die Zielgruppe des Senders reicht bis 13 Jahre, faktisch steigen die meisten schon früher aus. Aber auch Zehnjährige orientieren sich kurz vor Beginn der Pubertät nach oben, weshalb der Kika regelmäßig Doku-Soaps über die nächste Altersgruppe ausstrahlt: Jungs und Mädchen, die sich einige Wochen lang ohne erwachsene Aufsicht in Wohngemeinschaften selbst versorgen müssen; „Mutcamps“ über Jugendliche, die mit ihren Ängsten konfrontiert werden; Helden des Alltags, die besondere Leistungen vollbringen; oder 16jährige, die ein Praktikum absolvieren.
Foto: BR / Niklas Weise
„5VOR12“ feierte im Juli 2017 seine Weltpremiere beim rennomierten Europäischen Serienfestival „Séries Series“ in Fontainebleu, Frankreich und war dort neben „Der gleiche Himmel“ einer von zwei Deutschen Festivalbeiträgen.
Alle diese Produktionen haben eins gemeinsam: Sie laden zur Identifikation ein, weil die Protagonisten in der Regel attraktiv, interessant und selbstbewusst sind. „5vor12“ ist anders. Die Faszination, die von dem Quintett ausgeht, ist eher düsterer Natur; „die sehen echt gruselig aus“, stellt eine Mutter fest, als sie ihren Sohn zum Treffpunkt bringt. Der rasant geschnittene Vorspann verrät, wes Geistes Kind die Teilnehmer des Projekts sind. Der Begriff „Halbstarke“ ist zwar aus der Mode gekommen, aber er bringt es auf den Punkt: Lennox, Jonas, Otis, Malte und Tschakko sind Gestalten, denen die bürgerliche Kika-Zielgruppe im Alltag aus gutem Grund lieber aus dem Weg geht; und ihre Eltern auch. Der Reiz der Serie liegt unter anderem darin, dieses Stereotyp und auch die einzelnen Klischees (der Dicke, der Schweiger, der Aggressive, das Muttersöhnchen) zu hinterfragen. Als Anknüpfungspunkt dient in der ersten Folge Lennox (Yusuf Çelik); er ist neben Malte (Klaus Bobach Rios) der einzige Teilnehmer, der eingeführt wird: Den Wagen, der ihn zum Bahnhof bringt, fährt er selbst, weil sein Onkel betrunken auf dem Rücksitz liegt. Während die anderen aufgrund von Kleidung, Frisur und Auftreten einen eher zwielichtigen Eindruck machen, ist Lennox zunächst eine neutrale Figur. In den weiteren Folgen werden alle Jungs gleichwertig behandelt, was nicht heißt, dass auch alle gleichermaßen sympathisch werden.
Foto: BR / Niklas Weise
Die beiden Regisseure Niklas Weise und Christoph Pilsl haben während der Dreharbeiten rund um Bayerischzell offenbar eine Menge Material produziert. Immer wieder wechseln die Kameraperspektiven. Das lässt die einzelnen Folgen recht dynamisch erscheinen, kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass mitunter nur wenig passiert; allein für die Fahrt zur ersten Hütte, in der die Jungs die Kleidung tauschen, gehen mehrere Minuten drauf. Auch später verwenden Weise und Pilsl viel Sendezeit auf Tätigkeiten wie Wasser holen, Pferde füttern, nach Empfang für das eingeschmuggelte Telefon suchen oder einfach die Zeit totschlagen. Dass trotzdem eine gewisse Spannung entsteht, liegt nicht zuletzt an den fünf jungen Schauspielern, die kaum professionelle Erfahrung haben, aber eine aus Erwachsenensicht unangenehme Authentizität verbreiten. Auf Dauer nervt es zwar, dass sie sich gegenseitig ständig mit „Digger“, „Alter“ oder „Opfer“ ansprechen, aber das gehört ebenso dazu wie die mal verzweifelt, mal lächerlich anmutenden Versuche, cool zu sein.
Tatsächlich vermitteln viele Szenen den Eindruck einer guten Improvisation. Mit Ausnahme einiger Momente, in denen sie rumschreien, sind die jugendlichen Darsteller nicht weniger überzeugend als die beiden Erwachsenen; gerade Janne Drücker nervt erfolgreich als Paradebeispiel einer alles zerredenden Sozialarbeiterin. Das Ensemble macht seine Sache so gut, dass sich die Frage stellt, ob die jüngeren Mitglieder der Kika-Zielgruppe die Serie womöglich für echt halten werden; bei „Reality Entertainment“-Formaten wie „Berlin – Tag & Nacht“ ist das so. Die Gesprächskreise zum Beispiel, in denen sich die Delinquenten mit ihren Taten auseinandersetzen, wirken hinsichtlich Wortwahl und Ausdrucksweise wie die Dokumentation eines Sozialexperiments. Nicht nur deshalb ist „5vor12“ sowohl für den Kinderkanal wie auch für den Bayerischen Rundfunk bemerkenswert. Im Kika sind kaum noch deutsche Realserien zu sehen, ihre Herstellung ist schlicht zu teuer; die letzte eigenproduzierte Kika-Marke war die Reihe „krimi.de“. Das Angebot der verschiedenen deutschen Kindersender wird ohnehin von fröhlichen Zeichentrickserien dominiert; eine größere Diskrepanz zu den Einblicken in eine Welt, die nicht nur der Kika-Zielgruppe völlig fremd sein dürfte, ist kaum denkbar. Der BR wiederum hat sich im Kinderfernsehen zuletzt vor allem durch Wissensreportagen („Checker Tobi“) oder possierliche Tiersendungen („Anna und die wilden Tiere“) hervorgetan, aber mit der 64-teiligen Mystery-Serie „Der Fluch des Falken“ 2015 schon einmal eine fortlaufende Geschichte über eine Gruppe Jugendlicher in ungewohnter Umgebung erzählt. „5vor12“ ist mit 24 Folgen à knapp 25 Minuten zwar deutlich kürzer, aber nicht weniger ambitioniert. Die montags bis donnerstags ausgestrahlte Serie ist also ein doppeltes Experiment, vor wie auch hinter der Kamera.