Ali Hamady (Kida Khodr Ramadan), genannt „Toni“, Boss eines arabischen Clans in Berlin-Neukölln will aussteigen. Nicht aus moralischen Gründen. „Ich will ein sauberes Leben, keinen Stress, ich hab‘ Familie“, sagt er. Ein Leben als Immobilienbesitzer mit deutschem Pass, so stellt er sich seine Zukunft vor. Statt immer mit einem Bein im Gefängnis zu stehen, will er „der deutscheste Deutsche“ werden. Seit 26 Jahren lebt der Libanese mit befristeter Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland. Jetzt hat die Behörde angekündigt, dass seine Frau und er bald ihre deutschen Pässe bekommen werden. Doch in seinem Revier, den „4 Blocks“, gibt es Probleme: Die Polizei hat seinen Schwager Latif (Wasiem Taha alias Rapper Massiv) verhaftet, eine Drogenlieferung wurde beschlagnahmt, sein hochaggressiver Bruder Abbas (Veysel Gelin) flippt aus, ein ermittelnder Polizist wird erschossen und kriminelle Konkurrenz (Ronald Zehrfeld, Ludwig Trepte) droht. Gut, dass plötzlich Tonis Jugendfreund Vince (Frederick Lau) auftaucht, der vor Jahren verschwand, jetzt Geld braucht und Anschluss sucht. Toni, der Kopf, vertraut ihm, doch Abbas, die Faust, beäugt ihn argwöhnisch.
Nach den preisgekrönten „Add a Friend“ und „Weinberg“ startet TNT Serie jetzt seine dritte eigenproduzierte Serie. Und die kommt brachial, bildgewaltig und brisant daher. „4 Blocks“ ist ein packendes Clan-Drama aus Berlin-Neukölln, das vieles hat, was eine gute Genre-Serie braucht. Es geht um Familie & Verrat, um Recht & Unrecht, um Freundschaft & Feindschaft, um Schuld & Sühne – und das an einem Ort, der seit Jahren in den Schlagzeilen steht, weil er quasi als rechtsfreier Raum gilt: Der Neuköllner Kiez, genauer gesagt, der Nordteil des Bezirks an der Grenze zu Kreuzberg. „Ich hatte einen Zeitungsartikel gelesen über einige Straßen in Berlin, in die sich die Polizei nur in größerer Besetzung traut. Das fand ich bemerkenswert, weil es eine neue Entwicklung ist, die Sicherheitslage sich anscheinend deutlich verändert hatte. Das hat mich als Thema gereizt“, sagt Produzent Quirin Berg in einem Interview über den Ausgangspunkt der Serie. Nun, das ist zwar schon länger bekannt, aber bisher hat sich noch keiner fiktional an dieses Szenario in Neukölln gewagt. Wohl auch deshalb, weil die Gefahr groß ist, in Klischees zu verfallen. Denn die lauern hier an jeder Ecke.
Doch „4 Blocks“ schafft eine Authentizität, die in dieser Form selten ist im deutschen Fernsehen. Schon die Eröffnungsszene macht dies deutlich: Zwei kleine Dealer rauschen auf dem Roller durch die Straßen, liefern Drogen aus. Zwei Polizisten folgen ihnen zu ihrem vermeintlichen Auftraggeber in der grauen, betonierten High-Deck-Siedlung in Neukölln. Dort überprüfen sie den mutmaßlichen Auftraggeber. Aggressive Jungs beschimpfen und bewerfen die Beamten von der Betonbrücke aus. Die Polizistin will die Aktion abbrechen, doch ihr Partner findet im Kofferraum eines fetten Schlittens Drogen. Der Verdächtige ergreift die Flucht, und eine wilde Verfolgungsjagd beginnt. Eine Sequenz wie aus einem Guss. Die Inszenierung flüssig, die Kamera lebendig, nah dran am Geschehen. Aber keine Spielereien, keine Gags, kein Geplänkel. Ein roher, trockender Realismus: So könnte es da draußen wirklich aussehen. Neukölln wird quasi zu einem weiteren Hauptdarsteller. Und für die nötige „Street Credibility“ sorgen echte Berliner Clan-Mitglieder, die es als Rapper zu Bekanntheit gebracht haben: Veysel und Massiv. Die beiden stehen für die reizvolle Verflechtung von Fiktion und Wirklichkeit. Sie verkörpern den Kiez, den Clan, die Kultur. Ihre Sprache wirkt nicht gekünstelt. Wenn sie wortgewaltig ihre Beschimpfungen loslassen und sich martialisch vor anderen aufbauen, dann ist das die Form der Authentizität, die diese Serie ausmacht. Und auch das Production Value kann sich sehen lassen: die Locations, die Ausstattung, der Look, der Sound – da wurde viel Zeit und Geld investiert (vier Millionen Euro sollen es gewesen).
Die Rapper Veysel, Massiv und ihr Kollege Gringo haben auch den Song zur Serie geschrieben. Der harte Beat des Hip Hop spielt eine wichtige Rolle in der Serie, ihre Texte unterstreichen, was der Zuschauer sieht: „Wir sind keine Gang, wir sind Familie“. Die Musik gibt den Takt vor, dazu die harten Bilder, das physische Spiel – das hat man so noch nicht oft gesehen in deutschen Produktionen. Manches erinnert an Dominik Grafs „Im Angesicht des Verbrechens“, vor allem auch wie Regisseur Marvin Kren größere Szenen inszeniert. Da agieren nicht nur die zentralen Figuren, sondern die ganze Szenerie, das ganze Ensemble samt Statisten ist ständig in Bewegung. Und der Österreicher, der mit dem Horrorfilm „Rammbock“ bekannt wurde und bereits drei „Tatort“-Episoden (u.a. „Die letzte Wiesn“) gedreht hat, arbeitet mit drastischen Bilder – von spritzendem Ziegenblut bis zum brutalen Duell zweier Dealer ums nackte Überleben. Kren gibt der Serie einen schnellen Takt, nimmt sich aber auch Zeit für die Elemente, die seine zentrale Figur Toni in der ganzen Ambivalenz seines Tuns zeigen: Toni ist ein Brutalität befehlender Boss, aber auch ein weich gezeichneter liebevoller Familienvater. Kido Khodr Ramadan spielt ihn und erweist sich als Glücksfall für diese Serie. Im Libanon geboren, von Erziehern und Regisseur Neco Celik in einem Sommercamp für Jugendliche für die Schauspielerei („Knallhart“, „Kaddisch für einen Freund“) entdeckt, ist er Kiez-geerdet, kennt den Alltag dort, kennt die Sprache. Er braucht nicht die großen Auftritte, die großen Gesten, er hat in lauten wie in leisen Szenen eine enorme Präsenz, macht viel über den Ausdruck seiner Augen, und weiß die Tonalität bestens zu nutzen, wenn er spricht. Dazu der Berliner Frederick Lau, der mit Ramadan schon in „Ummah – Unter Freunden“ zusammen gespielt hat, für Rollen in „Neue Vahr Süd“ und „Victoria“ schon Grimme- und Filmpreis eingeheimst hat. Er gibt den stets undurchsichtig bleibenden Mit- und auch Gegenspieler von Toni. Ein starkes Duo.
Das Buch zu „4 Blocks“ stammt von Richard Kropf, Bon Konrad und Hanno Hackford. Das Trio hat auch die kürzlich für Amazon-Video produzierte Serie „You are wanted“ geschrieben. Den Dreien ist ein angenehm klischeefreier Blick auf Berlin gelungen, ihre Sätze treffen („Ich hasse diese Drecks-Hipster, die haben den ganzen Bezirk durcheinandergewirbelt“) und sind pointiert („Unsere Familie hat damals den Bürgermeister von Beirut gestellt, ihr habt Ziegen gehütet“). Weder wollen sie das Clan-Wesen glorifizieren noch verharmlosen. Zunächst war „4 Blocks“ als klassische Mafiageschichte angedacht. „Als wir mit der Entwicklung der Serie anfingen, war das ein unbelastetes Thema“, sagt Konrad. Dann kochte 2015 die Flüchtlingsdebatte hoch, und so entschied man sich, die Geschichte nun aus der Innensicht des Clans heraus zu erzählen. „4 Blocks“ ist aber nicht nur ein modernes Clan-Epos, sondern auch eine Serie über Integration. Toni und seine Brüder stehen für die Geschichte libanesischer Einwanderer, die seit Jahrzehnten mit einem befristeten Aufenthaltsstatus leben müssen. Wenn Toni in der ersten Folge mit seiner Frau einem kleinen Schuljungen gleich in der Behörde sitzt und sich über die Nachricht freut, dass beide bald einen deutschen Pass erhalten sollen, dann wird dieser harte Charakter weich und emotional. Endlich geschafft, sagt er sich. Doch die Dramaturgie der Serie will es, dass ausgerechnet jetzt, kurz vor dem Ziel und dem Ausstieg aus der Kriminalität, die Koordinaten verschoben werden und er um die Macht für seinen Clan in den vier Berliner Blocks rund um die Sonnenallee kämpfen muss. Die „4 Blocks“, die nicht nur für den Ort stehen, sondern auch das beschreiben, womit Tonis Clan sein Geld verdient: Mädchen, Casinos, Drogen, Schutzgeld. (Text-Stand: 1.5.2017)