23 Morde

Hedayati, Dinda, Eslam, Herzogenrath, Onneken. Die Schöne und das Biest

Foto: Sat 1 / Joyn
Foto Tilmann P. Gangloff

Gratis-Streaming-Serie! Kein Wunder, dass Sat 1 „23 Morde“ (H&V Entertainment) lieber nicht ausstrahlen wollte: Der Sender zeigt zwar durchaus mal Thriller, aber nicht in Serie. Hauptfigur der von Alex Eslam konzipierten sechsteiligen Staffel ist eine Berliner Kommissarin (Shadi Hedayati), die sich mit einem mutmaßlichen Serienmörder (Franz Dinda) zusammentut, um andere Serienmörder zu finden. Das klingt ein bisschen nach „Das Schweigen der Lämmer“, die Inszenierung der Opfer erinnert an „Sieben“, doch die Serie emanzipiert sich recht bald von den Vorbildern. Ihre Qualität liegt neben der speziellen Konstellation der Hauptfiguren in der sorgfältigen Ausarbeitung der ungewöhnlich raffinierten Drehbücher und deren Umsetzung. „23 Morde“ lag vier Jahre lang auf Eis; ab dem 19. August können alle Folgen kostenlos im ProSiebenSat1-Streamportal Joyn abgerufen werden.

Der Mann erkennt auf den ersten Blick Zusammenhänge, wo andere nur im Nebel stochern. Dank seiner außergewöhnlichen Fähigkeiten hat er zudem ein untrügliches Gespür für Details. Das macht ihn zur perfekten Ergänzung für eine attraktive Kriminalkommissarin, die sich ihrerseits auf ein untrügliches Gespür verlassen kann. Die beiden sind die Hauptfiguren einer Sat-1-Serie, aber die Rede ist nicht etwa von „Einstein“ mit Tom Beck, sondern von „23 Morde“. Die sechs Folgen sind bereits 2015 gedreht worden, doch der Sender hat sich nie dazu durchringen können, sie auszustrahlen: „weil die Serie eher spitz angelegt ist“, wie es heißt. Vier Jahre lang lag sie auf Eis, ab dem 19. August kann sie kostenlos im ProSiebenSat1-Streamportal Joyn abgerufen werden. Bei Alex Eslam (Konzept) und Producer Malte Can (Idee) dürfte der Vorgang gemischte Gefühle hervorrufen. Einerseits werden sie froh sein, dass „23 Morde“ endlich zu sehen ist, andererseits erleben sie ein Déjà-vu: Eslams in gleicher Konstellation zustande gekommenes und stilistisch herausragendes Regiedebüt „Bissige Hunde“ ist vor einigen Jahren in Zusammenarbeit zwischen ProSieben und der Filmakademie Ludwigsburg entstanden, aber trotz namhafter Besetzung 2015 auf Sixx versendet worden.

Eslams Konzept für „23 Morde“ orientiert sich einerseits an amerikanischen Krimiformaten, wie sie vor einiger Zeit in Mode waren, als hellsichtige Menschen die Polizei bei der Verbrecherjagd unterstützten, enthält aber auch Anteile von „Dexter“ (2006 bis 2013), jener US-Serie, in der ein zu Empathie unfähiger und seit seiner Kindheit traumatisierter Forensiker als Serienmörder Selbstjustiz übt: Maximilian Rapp (Franz Dinda) gilt als 23facher Mörder, und weil er die Taten zugegeben hat, gibt es keinen Ermittlungsgrund. Einzig Hauptkommissarin Tara Schöll (Shadi Hedayati) ahnt, dass bei dem umfassenden Geständnis irgendwas nicht stimmt, und tatsächlich stellt sich aufgrund eines anonymen Hinweises heraus, dass Rapp zumindest eine dreifache Mordserie nicht begangen haben kann. Weil er das Muster der Taten durchschaut – die Leichen der weiblichen Opfer wurden so arrangiert, dass sie unzweifelhaft für Kardinaltugenden stehen –, weiß er, dass es einen vierten Mord geben wird. Er erklärt sich bereit, Schöll zu helfen; allerdings nur unter bestimmten Bedingungen.

23 MordeFoto: Sat 1 / Joyn
„23 Morde“ lag vier Jahre lang auf Eis, weil die Krimi-Serie nicht mehr ins Sat-1-Programm passte. Jetzt sind die 6 Folgen beim Streaming-Anbieter Joyn zu sehen.

Die Konstellation à la „Die Schöne und das Biest“ erinnert an „Das Schweigen der Lämmer“, zumal Rapp ein großer Manipulator ist. Sein bevorzugtes Opfer ist allerdings Schölls Kollege Henry Kloss (Bernhard Piesk). Das Polizistenpaar hat eine Beziehung, deren Status immer wieder mal wechselt, und da Kloss wegen eines Sorgerechtsstreits mit seiner zukünftigen Exfrau derzeit sehr dünnhäutig ist, lässt er sich regelmäßig von Rapp provozieren. Womöglich ist er auch eifersüchtig, weil die Freundin so viel Zeit mit dem mutmaßlichen Mörder verbringt. Die Machtspielchen zwischen den beiden Männern wirken allerdings ähnlich unnötig wie die Auftritte eines weiteren Kollegen (Tim Wilde), der ständig beim Staatsanwalt (Wilfried Hochholdinger) gegen Schöll intrigiert. Er hat Rapp, bis zu seiner Verhaftung wissenschaftlicher Assistent in der Asservatenkammer der Polizei, zur Strecke gebracht, und muss nun mit anschauen, wie sich unter der Leitung von Schöll bei einem Fall nach dem anderen die Unschuld des Mannes herausstellt: Rapp hat sich als Kind die Schuld am Tod seines kleinen Bruders gegeben und deshalb auch die 23 Morde gestanden.

Soundtrack: (1) Guts feat. Masta Ace („Innovation“), Roots Manuva („Fighting For?“) (2) James Blake („Limit to Your Love”) (6) Ólafur Arnalds feat. Arnór Dan („So Far”)

Die Qualität der Serie liegt neben der speziellen Konstellation der Hauptfiguren in der sorgfältigen Ausarbeitung der ungewöhnlich raffinierten Drehbücher und deren Umsetzung, auch wenn einige Details buchstäblich an den Haaren herbeigezogen sind: Rapp braucht nur auf einem Haar zu kauen, um zu erkennen, dass jemand regelmäßig Kokain zu sich nimmt. Ähnlich wie in den Filmen und Serien mit übersinnlichen Polizeihelfern hat er rasant geschnittene Visionen, wenn er an Kleidungsstücken schnüffelt. Bildgestaltung und Spannung unterscheiden „23 Morde“ ohnehin deutlich von Sat-1-Krimiserien wie „Josephine Klick – Allein unter Cops“, „Einstein“ oder „Der Bulle und das Biest“, die stets auch komödiantische Anteile enthielten. Die Entscheidung des Senders gegen „23 Morde“ lässt sich daher sogar nachzuvollziehen: Das prägende düstere Element hat offenbar nicht in die Programmstrategie gepasst, zumal Sat 1 vermutlich noch heute unter dem „Blackout“-Trauma leidet; die achtteilige Serie hat 2006 ausgezeichnete Kritiken bekommen, war aber ein Quotenflop.

23 MordeFoto: Sat 1 / Joyn
Manipulator Maximilian Rapp (Franz Dinda). Ein Hauch „Schweigen der Lämmer“ und ein Feixen wie der junge Robert de Niro

Die Folgen eins und zwei sind im Grunde ein geteilter Spielfilm, denn die im Stil des David-Fincher-Thrillers „Sieben“ konzipierten Morde an den jungen Frauen entpuppen sich als geplanter Suizid des Killers (Victor Schefé): Schöll kann ein weiteres Opfer nur retten, indem sie den Mann umbringt. In Folge drei entpuppt sich die Ermordung dreier Brüder zumindest teilweise als perfide Tat, bei der auch die Flüchtlingsproblematik eine gewisse Rolle spielt. In Folge vier verarbeitet eine Frau den Unfalltod ihrer Eltern auf mörderische Weise, und Folge fünf behandelt einen sehr speziellen Fall von vermeintlicher häuslicher Gewalt. Ähnlich clever wie die jeweils in sich abgeschlossene Handlung ist die Integrierung eines horizontalen Erzählstrangs, bei dem es um Schölls verstorbenem Vater geht. Angeblich hat er sich vor zwei Jahren das Leben genommen, aber Rapp ahnt, dass das allenfalls die halbe Wahrheit ist.

Der Reiz von „23 Morde“ liegt ohnehin in der Diskrepanz zwischen Schein und Sein, aber auch im Verzicht auf Gewissheiten: Nur weil Rapp einige der ihm zur Last gelegten Taten nicht begangen hat, heißt das nicht, dass er gänzlich unschuldig ist. Mehrfach wird seine sinistre Seite deutlich; eine gewisse Neigung zum Sadismus ist ebenfalls zu erkennen. Auch Tara Schöll ist keine ausnahmslos strahlende Heldin; falls es der Wahrheitsfindung dient, hat sie keine Skrupel, ihren Freund und Partner Henry zu belügen. Gerade diese Vielschichtigkeit der Figuren macht sie auch darstellerisch anspruchsvoll. Shadi Hedayati, in Bochum geborene Tochter iranischer Einwanderer, dürfte einem breiten Publikum kaum bekannt sein, obwohl sie für Sat 1 bereits größere Rollen in den Komödien „Die Schlikkerfrauen“ und „Die Udo Honig Story“ (2014/15) gespielt hat. Sie versieht ihre Rolle mit genau den richtigen Zwischentönen, zumal Schöll ständig hin und her gerissen ist; zum Glück nicht zwischen zwei Männern, auch wenn es zwischen Rapp und der Polizistin zumindest aus seiner Sicht eine besondere Verbindung gibt. Franz Dinda ist eine ähnlich gute Besetzung, weil er zwar die Abgründe des hypersensiblen Rapp glaubwürdig verkörpert, dank seiner Jungenhaftigkeit jedoch durchaus sympathisch wirkt; allerdings hätte er die Figur gern noch mysteriöser anlegen können.

Sehenswert ist „23 Morde“ nicht zuletzt wegen der ausgefeilten aufwändigen Bildgestaltung (Mathias Neumann) und der dynamischen elektronischen Musik (Dirk Leupolz), die die Handlung immer wieder antreibt. Während die Folgen drei bis fünf von vergleichsweise normalen Fällen handeln, kehrt das Finale wieder zur Serienmörderthematik zurück: Jemand bestraft Menschen, die Schuld auf sich geladen haben, mit inszenierten Suiziden. Die passenden Grabsteine gibt er vorab in Auftrag; und der nächste trägt den Namen Tara Schöll. Die Folge hat einen Knüller zu bieten, der sich schon angedeutet hatte, und endet mit einem fetten Fragezeichen, das wahrscheinlich nie aufgelöst wird; es sei denn, die Abrufzahlen bei Joyn sind derart überwältigend, dass ProSiebenSat1 eine Fortsetzung in Auftrag gibt.

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Serie & Mehrteiler

Sat 1

Mit Shadi Hedayati, Franz Dinda, Bernhard Piesk, Wilfried Hochholdinger, Sinha Melina Gierke, Tim Wilde, Meral Perin.

Episodenrollen: (2) Victor Schefé, (3) Oliver Bröcker, (5) Jan Sosniok, Antje Schmidt, Inez Bjørg David, (6) Jörg Witte, Oliver Stritzel

Kamera: Mathias Neumann

Szenenbild: Wolfgang Baark, Oliver Munck

Kostüm: Anne Jendritzko

Schnitt: Thomas Zachmeier, Antonia Fenn

Musik: Dirk Leupolz

Redaktion: Anne Solá Ferrer, Andreas Perzl

Produktionsfirma: H&V Entertainment

Produktion: Alban Rehnitz, Malte Can

Drehbuch: Alex Eslam, Sven S. Poser, Birgit Maiwald, Markus Hoffmann, Uwe Kossmann, John-Hendrik Karsten, Annika Tepelmann, Sven Böttcher, Johannes Lackner – Konzept: Alex Eslam. Idee: Malte Can, Alban Rehnitz

Regie: Felix Herzogenrath, Edzard Onneken

EA: 19.08.2019 10:00 Uhr | Joyn

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