Zeit Verbrechen

Benito, Smith-Gneist, Eidinger, Minoguchi, Hegemann, Bonny, Shariat. Das haut rein

Foto: RTL / Viacom International
Foto Rainer Tittelbach

Ein Teenager, der eine Club-Nacht nicht überlebt. Ein junger Mann, der von seinen besten Freunden getötet wird. Ein V-Mann, der ein gefährliches Doppelspiel spielt. Ein Deutscher und ein Ghanaer, die sich beide von einer Millionenerbin Großes erträumen. Vier Geschichten, die von dem „ZEIT“-Podcast „Verbrechen“ (X Filme Creative Pool) inspiriert wurden. Vier Filme, zusammengefasst zu einer bereits preisgekrönten Anthologie-Serie, die sich mehr am Arthouse-Kino orientiert als an den herkömmlichen Krimi-Erzählungen des deutschen Fernsehens. Diese unvergleichliche Produktion, beauftragt von Paramount+, gezeigt von RTL+, kommt den Anthologie-Serien nach Ferdinand von Schirach noch am nächsten, konzeptionell, filmisch jedoch sind die Filme das Radikalste, was es in diesem Genre bisher gab. Es geht mächtig zur Sache, Gewalt dominiert viele Bilder, Dynamik und Bewegung sind formale Prinzipien. Die Schauspieler agieren physisch wie im Genrekino, die Dialoge sind alltagsnah, die Ästhetik wirkt oft rau & rüde, eine Moral oder Message wird nicht vorgegeben. Die Filme bieten jedoch reichlich Diskussions- und Reflexionspotenzial.

Ein Teenager, der eine Club-Nacht nicht überlebt. Ein junger Mann, der von seinen besten Freunden getötet wird. Ein V-Mann, der ein gefährliches Doppelspiel mit kriminellen Banden und der Polizei spielt. Ein Deutscher und ein Ghanaer, die sich beide von einer Millionenerbin Großes erträumen; doch nur einer kann (sie) gewinnen. Vier sehr unterschiedliche Geschichten, die von dem „ZEIT“-Podcast „Verbrechen“ (seit 2018) inspiriert wurden, der mit über 200 Episoden zu den erfolgreichsten deutschen True-Crime-Formaten gehört. Vier Filme, zusammengefasst zu einer bereits mehrfach preisgekrönten Anthologie-Serie, die sich mehr am Arthouse-Kino orientiert als an den herkömmlichen Krimi-Erzählungen des deutschen Fernsehens. Diese unvergleichliche Produktion, die vom krisengeschüttelten Paramount+ beauftragt wurde und nun bei RTL+ ihre Heimat gefunden hat, kommt den Anthologie-Serien nach Ferdinand von Schirach wie „Verbrechen“ oder „Schuld“ noch am nächsten, jedenfalls konzeptionell, filmisch jedoch sind die vier Episoden mit einer Filmlänge zwischen 55 und 72 Minuten das Radikalste, was es in diesem Genre bislang gab.

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Seit Jahren sind sie Freunde, doch in letzter Zeit geraten sie recht häufig aneinander. Faraz (Adrian Vasile Bu) und Cem (Zethphan Smith-Gneist, bereits ausgezeichnet als bester Nachwuchsschauspieler), der an Schizophrenie leidet; doch niemand merkt es.

„Dezember“ von Mariko Minoguchi („Mein Ende. Dein Anfang“) beginnt mit Statements derer, die am Unfalltod des 18jährigen Tim (Samuel Benito), der – völlig zugedröhnt – nicht nach Hause, sondern den Tod findet, eine zumindest moralische Mitschuld tragen, sich jedoch aus der Verantwortung reden: die Kumpels, die Sanitäter, die Polizei (Sebastian Zimmler, Aljoscha Stadelmann), ein Ehepaar (Lisa Hagmeister, Kailas Mahadevan). Juristisch sind sie Zeugen statt Angeklagte; ausgerechnet gegen die Person, die Tims Tod am wenigsten verhindern konnte, die Fahrerin des Unfallwagens, werden Ermittlungen eingeleitet. Der 40minütige Hauptteil des Films, gedreht in Echtzeit und in einer einzigen Einstellung, schildert die tragischen Ereignisse der Nacht aus der Perspektive des jungen Mannes vom Zusammenbruch vor dem Club bis zu den Autoscheinwerfern, die unaufhaltsam näherkommen. Obwohl man den Ausgang kennt, obwohl man diesen Tim förmlich in die Katastrophe torkeln sieht, gewinnt diese Episode von Minute zu Minute an Intensität, was auch am zunehmenden Mitgefühl liegt, das man diesem „kleinen, hilflosen Jungen“ als Zuschauer entgegenbringt. Verstärkt wird dieser Effekt durch die One-Shot-Nähe der Kamera und durch den Epilog, der zeitlich der verhängnisvollen Nacht vorausgeht: Tim, der nette Junge, und seine Freunde im Auto. Alle wirken zufrieden, lebendig, freuen sich auf das, was kommt. Dazu grölen sie glücklich den Oasis-Song „Stop Crying Your Heart Out.“

Soundtrack: (1) Jens Lissat („Outside Rave“), Oasis („Stop Crying Your Heart Out“), (2) Avi Michael („Alone“), By Alexander („Trumpets ft. 070 Shake“), Altitude Music („Carry Me Home“), (4) Gyakie („Something“), Patrick Manent („Kabaré Atèr“)

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Johnny macht wie immer auf dicke Hose. Dieser Panther ist eine Rolle wie geschaffen für Lars Eidinger: der rennt, rast, springt im Quadrat, der wütet und snieft, der palavert, lügt, performt, der singt, feixt und gibt den Großkotz mit großer Spiellust.

In „Deine Brüder“ ist die Tötung eines jungen Mannes für die Staatsanwaltschaft ein klarer Fall von Bandenkriminalität – ein milieuinterner Racheakt. Die Zeugen der Tat können dies bestätigen. Doch der Augenschein trügt. Die fünf Verteidiger der fünf an der Tat beteiligten jungen Männer operieren dagegen mit Begriffen wie „Notwehr-Exzess“ oder „ausgelagerter Suizid“. Tatsache ist: Die fünf Täter und das Opfer waren die besten Freunde, seit ihrer Kindheit unzertrennlich – bis Cem (Zethphan Smith-Gneist) immer häufiger ausrastet, gewalttätig wird, mit Waffen herumhantiert und schließlich Todesdrohungen gegen die Freunde und deren Familie ausspricht. Keiner fragt nach dem Warum, viel zu groß ist die „affektive Ausnahmesituation“, in der sich die jungen Männer befinden. Erst nach der Tat ist es vor allem eine Verteidigerin (Lavi-nia Wilson), die sich für die Psyche des Opfers interessiert. Der suizidgefährdete Cem scheint an einer Form von Schizophrenie gelitten zu haben. Möglicherweise haben soziale Fremdheitsgefühle die seelische Disposition noch verstärkt. Seltsamerweise verhielt sich der explosive junge Mann bei Lara (Luna Wedler) völlig anders; für sie war er der „perfekte Freund“. Erst im Verlauf der 60 Filmminuten bekommt man ein umfassendes Bild dieser komplexen emotionalen Gemengelage. Eine temporeiche, die Chronologie sprengende Montage und eine unerbittliche, hautnah an den Aktionen und den Charakteren klebende Kamera ziehen einen in den durchweg packenden Film von Helene Hegemann („Axolotl Roadkill“, „Strafe“).

In „Der Panther“ von Jan Bonny (Grimme-Preis für „Wir wären andere Menschen) tickt die nächste menschliche Zeitbombe. Johnny (Lars Eidinger) arbeitet als V-Mann für die Polizei – und damit von der Drogen-Bande, in die er eingeschleust wurde, keiner Verdacht schöpft, inszeniert er sich als das wilde Tier, das erst zufrieden ist, wenn die Beute, Unmengen Kokain, in seinen Händen ist und Blut spritzt. Als Dank erhält er bei Dave (Sahin Eryilmaz) einen Job als Fahrer, wodurch er den Bandenchef Porno kennenlernt. Wenn Johnny ihn überführen kann, ist alles, was war, vergessen: Bisher hat er nämlich nur die Polizeikasse geschröpft und der Polizistin Nele (Anna Bederke) Versprechungen gemacht. Johnny ist ein Trickser, ein Spielsüchtiger, ein rücksichtsloser Krimineller, der unter chronischer Selbstüberschätzung leidet und bei Leuten Schulden hat, bei denen man besser keine Schulden haben sollte. Er träumt vom Zeugenschutz, von Vietnam, doch bald ist er Freiwild für den mächtigen Gangsterclan. Dieser Panther ist eine Rolle wie geschaffen für Lars Eidinger: der rennt, der springt im Quadrat, der rast mit dem Motorrad durch die Gegend, der wütet und snieft, der palavert, lügt, performt, singt und feixt, der gibt den Großkotz, schafft minderjährige Prostituierte an, verzockt sein geliehenes Geld, tanzt auf dem Vulkan. Die Kamera hechtet ihm hinterher, und eine sehr rüde Filmsprache entspricht ganz diesem Charakter. Gegen Johnny ist Robert de Niros „Johnny Boy“ aus Martin Scorseses „Hexenkessel“ (1973) ein Waisenknabe.

Zeit VerbrechenFoto: RTL / Viacom International
Eine Serie, die schon vor ihrer (Streaming-)Premiere Fernsehgeschichte geschrieben hat. „Zeit Verbrechen“ wurde von Paramount+ in Auftrag gegeben, später von RTL übernommen. Preise gab es auch schon: den Deutschen Schauspielpreis für das gesamte Ensembe (u.a. Jan Henrik Stahlberg, Sandra Hüller), beim Deutschen FernsehKrimi-Festival 2024 gab es den Preis für die beste Krimi-Serie des Jahres, und auch ein Kameramann wurde ausgezeichnet, Christopher Aoun für „Deine Brüder“

„Love by Proxy“ von Faraz Shariat („Druck“) ist eine Art Anti-Thriller, eine typische Genre-Geschichte, in der sich die Perspektiven verschieben. Zu Beginn ist es die US-Amerikanerin Earlie Thomas (Maja Simonsen), die in Ghana ihren ermordeten Vater zu Grabe trägt, ein weißer Goldminen-Besitzer und Ausbeuter. Gold im Wert von 4,6 Millionen Dollar muss die Erbin aus dem korrupten Land schaffen. Nachdem sie entführt wurde, einen Unfall hatte und im Krankenhaus landet, wo man sie offenbar festhält, kann sie sich befreien. Für fünf Prozent des Erbes will der Bodyguard des Ermordeten (Fiifi Jefferson Pratt) Earlie und das Gold aus dem Land schmuggeln. Dafür benötigt er allerdings Hilfe aus Deutschland: Der verwitwete Ralf (Jan Henrik Stahlberg) steht die meiste Zeit über Smartphone mit seiner vom Schicksal gebeutelten Liebsten in Kontakt. Er fiebert mit ihr – und tut, was er tun kann, für sein Glück. Die Inkonsistenz des Films im Mittelteil lässt „Love by Proxy“, der zwar chronologischer erzählt ist als die anderen Episoden, in dem aber vieles seltsam bruchstückhaft und einiges unlogisch bleibt, auf den ersten Blick wie einen Nachwuchs-Kurzfilm erscheinen. Doch dann erfährt der Thriller-Plot eine Brechung, die das Erzählte in einem völlig anderen Licht erscheinen lässt. Plötzlich er-geben diese formalen Mängel Sinn – und der verkappte Thriller entwickelt sich zunehmend zu einem Drama um Fantasien, Hoffnungen und Rache – und bekommt sogar noch einen ethnischen Subtext.

Die vier Episoden von „Zeit Verbrechen“ besitzen inhaltlich wenig Gemeinsamkeiten. Filmästhetisch und dramaturgisch ähneln sie sich allerdings: Es geht mächtig zur Sache, Gewalt dominiert viele Bilder, Dynamik und Bewegung sind formale Prinzipien, selbst im One-Shot-Movie „Dezember“. Die Schauspieler agieren durchweg physisch wie im Genrekino, was auch an den alltagsnahen Dialogen liegt, die in „Dezember“ geradezu dokumentarisch wirken, während sie sich in „Love by Proxy“, der mehr englisch- als deutschsprachige Passagen enthält, vom amerikanischen Genrefilm inspirieren ließen. Eine Moral oder Message wird explizit nicht präsentiert, auch die unterschiedlichen Facetten des Migrationsalltags fließen beiläufig genrehaft in die Handlungen ein. Alle vier Filme bieten allerdings reichlich Diskussions- und Reflexionspotenzial. Mehr erfahren über die realen Hintergründe der True-Crime-Fälle lässt sich in den vier Dokumentationen „Zeit Verbrechen – Spurensuche“, die ebenfalls auf RTL+ zu sehen sind. (Text-Stand: 23.10.2024)

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Mit (1) Samuel Benito, Lisa Hagmeister, Kailas Mahadevan, Sebastian Zimmler; (2) Zethphan Smith-Gneist, Lavinia Wilson, Luna Wedler; (3) Lars Eidinger, Anna Bederke, Sahin Eryilmaz; (4) Maja Simonsen, Jan Henrik Stahlberg, Fiifi Jefferson, Sandra Hüller

Kamera: Christopher Aoun, Felix Pflieger, Jakob Berger, Simon Vu

Szenenbild: Marie-Luise Balzer, Kristina Schmidt, Sylvester Koziolek, Julia Maria Baumann

Kostüm: Ulrike Scharfschwerdt, Ulé Barcelos, Silke Faber, Maria-F. Jacob

Schnitt: Andi Pek, Friederike Hohmuth, Christoph Otto

Casting: Susanne Ritter, Liza Stutzky

Produktionsfirma: X Filme Creative Pool

Produktion: Jorgo Narjes, Uwe Schott

Drehbuch: Mariko Minoguchi, Paulina Lorenz, Faraz Shariat, Raquel Dukpa, Helene Hegemann, Jan Bonny, Jan Eichberg

Regie: Mariko Minoguchi, Helene Hegemann, Jan Bonny, Faraz Shariat

EA: 06.11.2024 10:00 Uhr | RTL+

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