Bewertung im Detail:
„Kein Entkommen“ hat sich 4,5 Sterne verdient, „Das Kind vom Finstertor“ nur 3,5-tittelbach.tv-Sterne.
Wolfsland – Kein Entkommen
Es ist Nacht in Görlitz. Musik und Licht sorgen dafür, dass die engen Gassen bedrohlich wirken. Die Spannung entlädt sich, als Hauptkommissarin Viola Delbrück auf ein Auto stößt. Kaltblütig erschießt sie diffuse Gestalt hinterm Lenkrad – und erwacht schreiend. Sie hat diesen Alptraum jede Nacht. Später stellt sich heraus, dass der Mann am Steuer ihr Partner Butsch Schulz ist. Der Kollege schläft in dieser Nacht ebenfalls nicht gut: Eine düstere Kapuzengestalt lungert vor seiner Wohnungstür herum. Der Prolog ist der perfekte Auftakt für die siebte Episode der ARD-Reihe mit Yvonne Catterfeld und Götz Schubert. Er setzt ein Spannungsniveau, das der Film dank der Action-Musik von Andreas Weidinger und einer vortrefflichen Bildgestaltung (Timo Moritz) neunzig Minuten lang durchhalten wird, zumal auch die Geschichte sehr interessant ist: Im Kessel einer stillgelegten Hefefabrik wird die Leiche einer jungen Frau gefunden. Sie gehörte zur Görlitzer „Escape Game“-Szene: Die Teilnehmer müssen Rätsel und Aufgaben lösen, um einen Raum oder ein Gebäude verlassen zu können. Offenbar hatte die Frau die Fabrik als neuen Spielort sondiert. Während Schulz und Delbrück ermitteln, wird eine alte Frau (Monika Lennartz) Opfer eines perfiden Betrugs: Ein Anrufer, der sich als Kommissar Schulz ausgibt, erklärt ihr, ihre Wohnung sei das Ziel von Einbrechern, bietet ihr aber an, ihre Wertsachen aufzubewahren, bis die Gefahr vorüber sei.
Foto: Degeto / MDR / Felix Matthies
Das klingt zwar zunächst nicht weiter aufregend, aber ein weiteres Element sorgt dafür, dass der Fall für Schulz keine gewöhnliche Mordermittlung ist. Bislang waren die „Wolfsland“-Episoden ohnehin immer dann am besten, wenn eine der beiden Hauptfiguren persönlich involviert war. Die Tote trug die Jacke ihrer besten Freundin. Schulz ist daher überzeugt, dass der Mord in Wirklichkeit Sandra (Tijan Marei) galt, zumal er der jungen Frau noch etwas schuldig ist; mit ihrer Hilfe hat er einen Zuhälter in den Knast gebracht. Delbrück sieht die Sache ganz anders, für sie ist der Schützling des Kollegen hochgradig verdächtig. Sie glaubt an Mord aus Eifersucht, weil das Opfer Sandra den Freund (Alexander Finkenwirth) ausgespannt hat. Dass der junge Mann kurz darauf erschlagen aufgefunden wird, wertet die Kommissarin als weiteren Beleg für ihre These. Selbstverständlich liegen die Dinge völlig anders, und natürlich hat es seinen Grund, dass Regisseur Till Franz
Der eigentliche Reiz des Films liegt jedoch in der Atmosphäre einer ständigen Bedrohung, die schon den Prolog prägte. Schulz fühlt sich ebenso verfolgt und beobachtet wie Sandra; auch das schweißt die beiden noch enger zusammen. Der Titel bezieht sich auf eine Botschaft, die in die Wohnungstür des Kommissars geritzt ist. Zusätzliche Brisanz erhält die Geschichte durch die gereizte Stimmung zwischen dem Ermittlerduo: Die zu Beginn der Reihe aus Hamburg in die Oberlausitz versetzte Delbrück will Görlitz wieder verlassen, ihr Versetzungsgesuch liegt bereits unterschrieben auf ihrem Schreibtisch, und Schulz, der sich gern ruppig gibt, versichert ihr, er werde sie nicht aufhalten. Seine Laune verschlechtert sich noch, als er mitbekommt, wie die Kollegin auf die Flirts eines Sozialarbeiters reagiert. Daniel Hölzer (Christoph Letkowski) will aus der Hefefabrik eine Art Abenteuerspielplatz für Jugendliche machen. Er ist es auch, der das Duo aus einer höchst misslichen Lage befreit: Als Delbrück den Kollegen zur abendlichen Aussprache in den Kessel bittet, werden die beiden eingeschlossen. Schulz glaubt, Hölzer war’s, und attackiert den Mann am nächsten Morgen, aber der offenbar nahkampferprobte Sozialarbeiter kontert den Angriff; und Delbrück lässt sich auf eine Romanze ein, die auch im zweiten Film weitergeht.
Foto: Degeto / MDR / Felix Matthies
Neben dem Drehbuch mit seinen vielen unerwarteten Wendungen, der durchgehend guten elektronischen Musik und der auffallend sorgfältigen Lichtsetzung imponiert „Kein Entkommen“ vor allem durch Franzens Arbeit mit den Schauspielern, die eben nicht den Eindruck erwecken, als spielten sie. Gerade das klärende Gespräch von Schulz und Delbrück im Kessel ist von großer Intensität. Sehr schön sind auch die unnachahmlichen Auftritte von Stephan Grossmann als Vorgesetzter, der sich vernachlässigt fühlt, weil ihn niemand auf dem Laufenden hält. Vierter im Kripo-Bunde ist Hintergrundermittler Jakob Böhme (Jan Dose), der ständig ungefragt versichert, er sei nicht in Delbrück verliebt. Aus dem weiteren Ensemble ragt vor allem Tijan Marei heraus. Sie setzt damit ihre bemerkenswerten Leistungen als Hauptdarstellerin von „Ellas Baby“ (2017) und „Schneewittchen und der Zauber der Zwerge“ (2019) fort. Till Franzen wiederum hat zwar schon einige richtig gute Krimis gedreht, etwa „Im Tal des Fuchses“ (2020) nach Charlotte Link oder die „Nord bei Nordwest“-Episode „Der Transport“ (2017), war aber mit „Irrlichter“ (2018) auch für einen der deutlich schwächeren „Wolfsland“-Filme verantwortlich. In seiner Filmografie finden sich zudem die Top-Serien „Weinberg“ (2015) und „Das Wichtigste im Leben“ (2019) sowie einige sehenswerte Freitags-Komödien („Drei Väter sind besser als keiner“, 2016, und „Hausbau mit Hindernissen“, 2017). Auch in „Kein Entkommen“ gibt es einige unerwartet heitere Momente. Der Film endet mit einem cleveren Cliffhanger, der erfolgreich die Neugier auf die Fortsetzung schürt.
Foto: Degeto / MDR / Felix Matthies
„Das Kind vom Finstertor“: Hier ist Böses am Werk
Wie schon bei den beiden letzten Doppelepisoden kommt es auch diesmal beim zweiten Film zu einem unerklärlichen Qualitätsabfall, obwohl die kreativen Köpfe beide Male die gleichen waren. Die Handlung hat bei Weitem nicht das Spannungspotenzial von „Kein Entkommen“, selbst wenn die diffusen Bedrohungen für Schulz weitergehen: Jemand ist in seine Wohnung eingedrungen und hat ein Foto von ihm mit einem Messer durchbohrt, der Grabstein seiner Frau ist beschmiert worden. Der eigentliche Fall beginnt immerhin originell: Nach einem Leichenfund auf einem Friedhof entdeckt Schulz im Kofferraum des Toten einen etwa zehn Jahre alten Jungen. Das Auto steht in der Finstertorstraße, daher der Titel, allerdings nennt Schulz das „Kind vom Finstertor“ erst mal nur Kaspar: Der Junge war offenbar lange eingesperrt und spricht nicht; wie Kaspar Hauser. Auf der Suche nach seiner Herkunft stoßen Schulz und Delbrück schließlich auf ein Ehepaar (Felix Goeser, Dagmar Leesch), dessen dreijähriger Sohn Tim vor sieben Jahren spurlos verschwunden ist. Anders als im ersten Film, in dem der Fall lange völlig rätselhaft blieb, ist hier jedoch relativ früh zu ahnen, wer nicht nur für die damalige Entführung, sondern auch für den Mord verantwortlich ist. Selbst das Finale, als die wiedervereinigte Familie um ihr Leben bangen muss, ist nicht sonderlich spannend, zumal Franzen ein Lapsus unterläuft, als ein Pistolenhahn gleich zweimal gespannt wird. Viel interessanter ist daher die Frage, wer Schulz nach dem Leben trachtet.
„Das Kind vom Finstertor“ hat viele sehenswerte Momente. Bildgestaltung & Musik bewegen sich auf ähnlichem Niveau wie bei „Kein Entkommen“, selbst wenn der erste Film insgesamt kunstvoller wirkt; die Intensität ist aber längst nicht mehr so hoch. Dazu passt die Romanze, die Delbrück mit dem Sozialarbeiter erlebt. Und doch fällt ein Schatten auf ihr Glück, der mit ihrem Ex-Mann zu tun hat. Den Hinweis versteht jedoch nur, wer die „Wolfsland“-Episoden mit Johannes Zirner gesehen hat. Auf diese Weise endet die Episode gleich mit einem doppelten Cliffhanger, denn auch das Leben von Schulz bleibt in Gefahr. Seltsam ist allerdings, dass sich die beiden wieder angiften, als hätte es die innige Annäherung im letzten Film nicht gegeben. Andererseits sollen die „Zwei-wie-Feuer-und-Wasser“-Animositäten wohl einen besonderen Reiz der Reihe ausmachen. Als sie streitend bei der Freundin des Mordopfers klingeln, glaubt die Frau, sie seien bei der falschen Adresse und wollten eigentlich zum Paartherapeuten ein paar Häuser weiter. Trotz solcher kleiner Heiterkeiten ist die Fortsetzung im Vergleich zu „Kein Entkommen“ ein ganz normaler Durchschnittskrimi.