Wie reagiert Gott eigentlich darauf, dass immer weniger Menschen an ihn glauben? Im Grunde genauso, wie es unsereins tun würde: Er findet das ziemlich doof. Die zunehmende Ignoranz der Menschen hat offenbar bereits zur einen oder anderen depressiven Phase geführt; in solchen Zeiten hat er auch schon mal Dinge gründlich verbockt. Gott heißt übrigens Hörster und lebt auf einer beschaulichen Ostsee-Insel, wo er eine Art Pension betreibt; „der Heiland auf dem Eiland“ könnte man sagen, wäre er nicht ein Herr von Mitte fünfzig mit Bart und Bauch. Hörster (Bruno Cathomas) ist zwar die zentrale Figur dieses originellen Altersdramas, weil er alle Fäden in der Hand hat, doch die Hauptrolle spielt Corinna Harfouch, und das auf eine Weise, die gleichermaßen berührend wie komisch ist: Charlotte hat einen Brief in ihrer Handtasche, der vermutlich keine guten Nachrichten enthält. Jedenfalls ist sie ziemlich neben der Spur, auch wenn sie womöglich schon immer ein wenig wunderlich war; aber normal im herkömmlichen Sinn ist in dieser Geschichte ohnehin niemand.
„Wer hat eigentlich die Liebe erfunden?“ ist das Langfilmdebüt von Kerstin Polte, die auch das Drehbuch geschrieben hat. Die Inszenierung ist jedoch ungemein stilsicher und die Arbeit mit dem Ensemble beeindruckend. Dabei ist das komische Drama durchaus eigenwillig, aber die Besonderheiten wirken nie aufgesetzt oder weit hergeholt. Bestes Beispiel ist Charlottes elfjährige Enkelin Jo, die von der jungen Annalee Ranft ganz famos verkörpert wird. Das Mädchen ist zumindest im Kopf eindeutig frühreif und sorgt mit seinen Fragen dafür, dass nicht nur Jos Familie immer wieder ins Grübeln kommt. Noch während des Prologs fragt sie flüsternd aus dem Off, woher eine Katze wissen soll, dass sie kein Vogel ist, wenn sie noch nie versucht hat zu fliegen? Kaum hat Jo den Gedanken ausgesprochen, fällt das Tier aus dem Fenster und stirbt. Aber weil in diesem Film alles anders ist, fliegt die Katze zum Vorspann über die Siedlung; vor der Kamera sind jedenfalls ihre Schnurrbarthaare zu sehen.
Foto: SR / augenschein Filmproduktion
Eine gleichfalls ungewöhnliche Figur ist Jos offenbar unstet beschäftigte Mutter Alex (Meret Becker). Die kluge Tochter scheint sie zu überfordern, aber Alex erweckt sowieso den Eindruck, als sei Jo die reifere der beiden. Der einzige Mann im Ensemble (neben Hörster natürlich, der ja aber über den Dingen schwebt) ist Charlottes Gatte Paul (Karl Kranzkowski), der keine Ahnung vom medizinischen Befund seiner Frau hat, auch wenn nicht zu übersehen ist, dass ihre Vergesslichkeit besorgniserregende Züge annimmt. Als sich das Paar wieder mal uneins ist, lässt sie ihn kurzerhand an einer Raststätte zurück. Jetzt geht der Film im Grunde erst richtig los, denn Jo hat sich als blinde Passagierin im Auto versteckt; Oma und Enkelin machen sich gemeinsam auf die Suche nach Gott.
Viele Debüts wirken überfrachtet, weil Buch und Regie nicht auf liebgewonnene Ideen wie diese verzichten wollen. Das hätte bei „Wer hat eigentlich die Liebe erfunden?“ auch sehr leicht passieren können; es würde jeden Rahmen sprengen, all’ die Überraschungen und Wendungen dieses Films aufzuführen, zumal nicht nur Gott zwischendurch immer wieder vor sich hin philosophiert; aber Polte, die im Rahmen des Bayrischen Filmpreises für die Beste Nachwuchsregie ausgezeichnet worden ist, kriegt immer wieder rechtzeitig die Kurve. Gerade rund um Charlotte gibt es einige Momente, die zunächst recht rätselhaft wirken, aber später aufgelöst werden. Einmal liegt sie kopfüber in der Wanne, schwimmt geistig aber – wie die Bilder zeigen – im Meer; damit nimmt Polte vorweg, dass sich ihre Heldin am Ende tatsächlich erstmals ins Meer traut. Auch die Beichte aus dem Prolog ist ein Vorgriff auf spätere Ereignisse. Der Monolog entpuppt sich zwar als Selbstgespräch, weil die andere Hälfte des Beichtstuhls leer ist, aber Gott hat sie sehr wohl erhört. Perfekt ist er trotzdem nicht, wie er später gegenüber Paul einräumen muss. Bei der Kombination von Paul und Charlotte ist ihm wohl ein Fehler unterlaufen, was ihm prompt einen rechten Haken einbringt.
Ungewöhnlich für ein Erstlingswerk ist auch die visuelle Kraft der Bilder mit ihren teilweise sehr intensiven Farben (Kamera: Anina Gmuer). Das ist nicht zuletzt eine Frage des Produktionsdesigns (Ina Timmerberg). Als Jo nachts auf der Insel verschwindet, suchen die anderen nach ihr; für Licht sorgen jedoch nicht etwa Taschenlampen, sondern Tisch- und Stehleuchten. Gerade Jos Kinderzimmer und Hörsters Herberge sind sehr liebevoll ausgestattet. Charlottes Zimmer zum Beispiel ist ein Traum in Türkis mit leeren Bilderrahmen; auf der Kommode wächst Moos. Und weil nicht zuletzt wegen Gott auch der Himmel eine wichtige Rolle spielt, tauchen in Zwischenbildern immer wieder Wolken auf (der internationale Titel lautet „Cloud Whispers“, Wolkenflüstern). Für diese Ebene steht Marion (Sabine Timoteo), eine Fernfahrerin, in deren mit vielen Wolkenfotos dekoriertem Lkw-Führerhaus erst Paul und dann auch Alex landen. Die beiden Frauen finden umgehend großen Gefallen aneinander, was den Film um eine Romanze bereichert. Meret Becker verkörpert als Mutter, Tochter und Geliebte nicht nur die facettenreichste Figur, sie hat auch das von ihr selbst komponierte und gesungene Lied „Monster Song“ beigesteuert. Die ausgelassene Musik (Johannes Gwisdek) ist ohnehin großartig und hat großen Anteil an der aller Nachdenklichkeit zum Trotz vermittelten Lebensfreude. Die Liebe hat natürlich Gott erfunden (er wollte wissen, wie die Schmetterlinge in den Bauch kommen), aber auch den Tod: weil die Menschen sonst alles auf Morgen verschieben würden, anstatt heute zu leben. Zu dieser Botschaft passt auch der Schluss, der zwar traurig, aber dennoch schön ist. (Text-Stand: 1.8.2020)
Foto: SR / augenschein Filmproduktion
Eine unheilbar erkrankte Frau will nach 37 Ehejahren mit ihrem Ehemann endlich ans Meer fahren, doch der ziert sich. Deshalb fährt sie mit ihrer Enkelin alleine los. Nach einem abenteuerlichen Trip landet dann aber die ganze Familie auf einer Insel in einer surrealen Pension. Ein eher bemühter Debütfilm, in dem sich Fantasie und Poesie nicht so recht entfalten. Dies gilt auch für die Figuren, obwohl die Schauspieler versuchen, den mitunter doch recht skurrilen Charakteren Authentizität zu verleihen. (filmdienst)
Kerstin Polte platziert in der märchenhaften Szenerie punktgenau besetzte Figuren, denen man einfach gerne dabei zusieht, wie sie sich an so etwas wie Leben versuchen. Gleichzeitig thematisiert Polte gänzlich schwerelos grundlegende Fragen der Existenz. Zusammengehalten wird alles von der weisen Erzählerstimme Roberts. Und der weiß womöglich Dinge, die sonst keiner weiß – und kann vielleicht sogar die titelgebende Frage beantworten. (tip Berlin)
Auslöser für den Debütfilm von Kerstin Polte war die Diagnose einer schweren Krankheit bei ihrem Vater, mit all den widersprüchlichen Gedanken über Vergänglichkeit und Verlust, die dadurch angestoßen werden. Statt Schmerz und Trauer aber stellt sie einen sommerlich luftigen Aufbruch in eine neue Lebensphase in den Mittelpunkt, im knallroten Laster oder auf einer orangefarbenen Vespa, vorbei an saftig grünen Wiesen, weißen Schäfchenwolken und blauen Wellen. (…) Mit deutlichen Anleihen bei Feelgood-Dramen wie „Die fabelhafte Welt der Amélie“ und „Little Miss Sunshine“ wirkt der Film bisweilen ein wenig forciert pittoresk, die Um- und Abwege erscheinen einen Hauch zu konstruiert, die lebensphilosophischen Sentenzen ein wenig wie Poesiealbumsprüche – ein Manko, das vom unprätentiös wahrhaftigen Spiel der Darsteller aber weitgehend abgefangen wird. (epd film)