Verunsichert – Alles Gute für die Zukunft

Henny Reents, Windolf, Brambach, Lühdorff. Eine David-gegen-Goliath-Geschichte

Foto: WDR / Guido Engels
Foto Rainer Tittelbach

Wer hält am Ende wohl länger durch: ein Kranker oder ein Konzern? Immer weniger Unfall- und Berufsunfähigkeitsrenten werden ausgezahlt. Stattdessen sitzen die Versicherungen die Schadensfälle aus und halten die Versicherten hin. „Verunsichert – Alles Gute für die Zukunft“ (WDR / Zeitsprung Pictures) erzählt – inspiriert von der bemerkenswerten Biographie einer ehemaligen Schadensreguliererin, die als Verbraucheranwältin die Seite wechselte – von einem für gewöhnlich aussichtslosen Kampf. Der Chronologie der wahren Begebenheit(en) folgend verläuft die Handlung dramaturgisch in bewährten Bahnen. Es wird ein von einer engagierten Hauptfigur getragener typischer Helden-Plot erzählt, der nicht nur durch die menschenverachtenden Ereignisse, sondern auch durch einen gewissen „Erin Brockovich“-Touch den Zuschauer emotional mitnimmt. Lühdorff verzichtet auf übertriebene Dramatisierung. Wem die Sympathien gehören wird aber dank Henny Reents deutlich.

Franziska Schlüter (Henny Reents) gehört zu den Aushängeschildern der Aesecuria-Versicherungen und steht nach Ansicht ihres Chefs Ulf Buschmann (Steve Windolf) folgerichtig vor einem Karrieresprung. Aber die Schadensreguliererin zweifelt daran, ob Referentin der Rechtsabteilung das Richtige für sie ist. Immer öfter fragt sich die bisher so loyale Mitarbeiterin, was sie da eigentlich mache: die Auszahlung von Berufsunfähigkeitsrenten blockieren, Schadensfälle aussitzen, Vorgänge möglichst kostenneutral abschließen. Wo bleibt da der Mensch? Wo bleibt das Recht? Als sich einer ihrer Antragsteller das Leben nimmt und sie von dessen Witwe vor versammelter Belegschaft beschimpft wird, wachsen ihre moralischen Zweifel. Als sie dann auch noch mit dem Schicksal eines benachbarten Ehepaars konfrontiert wird, fasst sie eine radikale Entscheidung: Sie kündigt und macht sich als Anwältin selbstständig. Jetzt will sie sich für diejenigen einsetzen, deren Ansprüche sie bisher abgeschmettert hatte. Ihr erster Fall wird der ihrer Nachbarn Greta (Picco von Grote) und Robert Strelau (Simon Böer), denen vor über zwei Jahren die Auszahlung verweigert wurde. Der Mann hatte zwei Jahre zuvor einen Autounfall, sitzt seitdem im Rollstuhl und ist arbeitsunfähig. Schlüter hofft, dass ein kostspieliger Prozess verhindert werden könne, doch ihr früherer Arbeitgeber, ein Versicherungsriese, setzt auf Zeit und die besten Anwälte. Und so wird es erst fünf Jahre nach der Zahlungsverweigerung ein Urteil geben.

Verunsichert – Alles Gute für die ZukunftFoto: WDR / Guido Engels
Das Ende der Verdrängung. Franziska Schlüter (Henny Reents) kommen zunehmend Zweifel, ob das, was sie bei der Aesecuria seit Jahren zu verantworten hat, das ist, weshalb sie ihren Beruf gewählt hat. Wo bleibt der Mensch? Wo die Gerechtigkeit? Ulf Buschmann (Steve Windolf), ihr Vorgesetzter, sieht es locker. Die Versicherten abzocken ist ein Wettbewerb, ein Spiel, bei dem nur einer gewinnen kann. Die Haltung hat sich die Versicherungsbranche von den Investment-Bankern abgeguckt.

Diese Franziska Schlüter ist einem realen Vorbild nachgezeichnet: Auch Beatrix Hüller war Schadensreguliererin bei einer großen Versicherung, bevor sie sich als Fachanwältin für Versicherungsrecht auf die Seite der Schwächeren schlug. „Verunsichert – Alles Gute für die Zukunft“ erzählt an ihrer bemerkenswerten Biographie entlang von einem für gewöhnlich aussichtslosen Kampf zwischen Versicherten und Versicherung. Dabei ist das Schicksal der Strelaus weder ein Einzelfall, noch wurde es von Autor-Regisseur Jörg Lühdorff übertrieben dramatisiert. Der WDR-Fernsehfilm zeigt vielmehr die Praktiken der Versicherungsbranche auf, die seit der Deregulierung und Öffnung des deutschen Versicherungsmarktes in den 1990er Jahren kein „festes Bündnis mit dem Glück“ (Allianz-Slogan) mehr sind. Die staatliche Aufsicht fiel weg, zugunsten eines Wettbewerbs mit Wildwest-Methoden. Gerechnet wird Erfolg längst nicht mehr in (zu preiswerten) Versicherungs-Abschlüssen, sondern er wird gemessen anhand der Zahlungen, die man seinem Arbeitgeber erspart hat, was bei der Weihnachtsparty der Aesecuria zu Beginn des Films – ganz nebenbei – angedeutet wird. Später spricht es sogar die Heldin aus: Das Verschleppen eines Falls in Richtung Verjährung wurde zum Wettbewerb. Auch Schlüter war eine Königin im Hinhalten und Aussitzen. Aus gutem Grund. Denn wer hält am Ende wohl länger durch – ein Kranker oder ein Konzern?

Ein guter Lesetipp für am Thema Interessierte!
„Bei Unfallversicherungen sei es die Regel, dass Ansprüche abgeschmettert würden, sagt Hüller. ‚Das sind Massenversicherungen, fast jeder hat eine. Da haben wir die Ablehnungen nicht mehr individuell geschrieben. Wir hatten Textbausteine, ungefähr 30 verschiedene, die miteinander kombinierbar waren.‘ Die Unbeholfenheit vieler Versicherter, die ihr Anliegen schlecht ausdrücken könnten, sei ‚gnadenlos ausgenutzt worden‘, sagt Hüller. ‚Vor allem die Berufsunfähigen haben oft kognitive Störungen und kriegen keine Schilderung hin, die sind psychisch angeschlagen.‘ Ihr und den anderen Sachbearbeitern sei es nicht darum gegangen, einem Verunglückten möglichst schnell zu helfen, sondern allein um die Frage: ‚Wie krieg ich das Ding vom Tisch?‘ – und zwar ohne dass das Unternehmen zahlen muss.“
(Roland Kirbach: Im Stich gelassen. DIE ZEIT Nr. 2/2013)

Verunsichert – Alles Gute für die ZukunftFoto: WDR / Guido Engels
„Was ist denn das für eine menschenverachtende Haltung!“ Auch der skandalöse Umgang ihres früheren Arbeitgebers im Fall ihrer Nachbarn (Picco von Grote, Simon Böer) hat Schlüter (Henny Reents) zur Kündigung veranlasst. Die Aesecuria profitiert vom Unwissen der Strelaus und spielt auf Zeit. Jetzt will Schlüter sich für das Paar einsetzen, das schlechte Karten hat im Kampf mit dem Versicherungskonzern.

Der Chronologie der wahren Begebenheit(en) folgend, verläuft die Handlung dramaturgisch in den bewährten Bahnen einer David-gegen-Goliath-Geschichte. Außerdem wird ein von einer engagierten, authentischen Hauptfigur getragener typischer Helden-Plot erzählt, der nicht nur durch diese unerhört menschenverachtenden, empörenden Ereignisse, sondern auch durch einen gewissen „Erin Brockovich“-Touch den Zuschauer emotional mitnimmt. Schlüter war zwar das fleißige Bienchen der Aesecuria, aber sie ist keine Frau für die rhetorisch brillanten Prozess-Plädoyers. Das weiß auch ihr Gegner. Und das wiederum weiß sie. Roter Kopf und Stottern sind also vorprogrammiert. Sie bekommt zwar mit ihrem Sozius (verleiht Info-Szenen einen launigen Mehrwert: Martin Brambach), der sie sogar fürs Gericht zu coachen versucht, einen sehr verbindlichen Fürsprecher, allerdings hat dieser  nicht nur Stärken: Seine Alkoholsucht (aus einem gutem biografischen Grunde) treibt die Kanzlei fast in den Ruin. Das alles, die emotionale Grundierung des Films, ist höchst sympathisch. Henny Reents („Nord bei Nordwest“) gibt ihre Franziska Schlüter anfangs frisch und konzentriert als eine vermeintliche Gewinnerin, dann werden ihre Schwächen scheibchenweise nachgereicht. Reents schreibt ihrer Figur die Last, die der Fall sie kostet, in Gesicht und Körpersprache ein. Der Filmtitel „Verunsichert“ bezieht sich also nicht nur auf die Unfallopfer, die nach der Ablehnung der Zahlung, nicht wissen, wie sie reagieren sollen, sondern vor allem auch auf die Heldin, die wie als Kind oder Teenager noch immer die auf sie gerichteten Blicke nicht ertragen kann. Psychologisch motiviert, wenngleich nicht vertieft, ist auch der Grund für ihre Berufswahl, der auch ihre moralische Kehrtwende nach dem ersten Drittel des Films erklärt.

Verunsichert – Alles Gute für die ZukunftFoto: WDR / Guido Engels
Sozius Sachtler (Martin Brambach) entwickelt sich zum Mentor der verunsicherten Anwältin. Er kennt alle Tricks und gibt Tipps zur Körpersprache, denn Schlüter fällt es schwer, vor einer Gruppe von Menschen zu reden. Dieses psychologische Manko ist mehr als nur ein dramaturgischer Hemmschuh auf dem Weg zum Happy End. Es erhöht das Mitgefühl mit ihr und die Anteilnahme am Fall, der ja ihre persönliche Bewährungs-Probe darstellt. Henny Reents überzeugt in einer facettenreichen Rolle.

Die dramaturgisch-psychologische Stringenz der Geschichte findet ihren Widerhall auch in klaren ästhetischen Lösungen. So korrespondiert beispielsweise in den ersten 30 Minuten die gläserne, extrovertierte Transparenz der Versicherungsräume mit der heimeligen Wärme, die abends im Haus der Schlüters vorherrscht. Dieser Ehemann wird zur Heldin stehen und ihr auch in schweren Zeiten den Rücken freihalten, selbst dann noch, wenn es in der Ehe der beiden kriselt. Auch der visuelle Gegensatz der Kanzleien spiegelt ein Stück weit die Geschichte und die Psychologie der Charaktere: Im Licht stehen die erfolgsverwöhnten Blender, die Manipulatoren, im Dunkel eines Arbeitsplatzes, der mit seinem klassischen Uralt-Inventar eine andere Ära repräsentiert (auch moralisch), sind die aus der Zeit gefallenen Kämpfer für Recht und Gerechtigkeit. Die leicht beängstigende Düsternis dieser mit ihren ausgestopften Tieren museal anmutenden Räumlichkeiten deutet gleichsam auf die seelische psychologische Problematik von Schlüter und Sachtler hin. Schön auch, wie der ganz aus der Perspektive der Hauptfigur erzählte Film immer wieder visuelle Lösungen sucht, indem statt wortreich erklärende Dialoge stumme Szenen die Gedanken der Hauptfigur andeuten (ein Blick auf den Schnuller, den die Frau des Selbstmörders in der Kanzlei verloren hat; ein Blick aus dem Wohnzimmerfenster, der ihr die Notlage der Nachbarn ins Bewusstsein ruft).

Lühdorff versteht es als Autor, aber auch Regisseur, den Zuschauer an den Film zu binden: die skandalöse Begebenheit, diese ehrliche Haut von Heldin, die ihre eigenen Lügen zugeben kann und der man 90 Minuten lang alle Daumen drückt, die insgesamt klare emotional-moralische Positionierung des Erzählten, dazu die perfide Taktik der Gegenseite, die Verschleppung des Verfahrens, die persönlichen Angriffe unter der Gürtellinie… Dieser Frau muss es einfach gelingen, allen Zweiflern zum Trotz zu beweisen, dass sie es kann! Auch ganz im Interesse des Zuschauers, den der Film – quasi auf dem Rücken der Heldin – mit zum Anwalt der Gerechtigkeit macht. Gefangen im emotionalen Sog der geradlinig erzählten Geschichte erweitert „Verunsichert – Alles Gute für die Zukunft“ in den letzten 20 Minuten seinen narrativen Fokus. Die Heldin zieht alle Register, um die Öffentlichkeit über die neue Ethik der Versicherungsbranche zu informieren. So kann Lühdorff noch geschickt – sprich: beiläufig – ein paar Fakten und Zahlen ins spannende Spiel einbringen. „Bis zum heutigen Tag hat die Bundesregierung keiner Gesetzesänderung zugestimmt und immer noch werden viele verzweifelte Versicherte um ihre berechtigten Zahlungen gebracht“, informiert ein Schluss-Insert. Entsprechend hilft auch im Film keine übergeordnete Instanz. Der Einzelne wird zum Vertreter der Moral. Dass die Heldin am Ende als Sieger aus dem Gerichtssaal geht, das ist bei dieser Art von Bewährungsdramaturgie (die erfreulicherweise nicht zu amerikanisch ist) von vornherein alternativlos. Dass sie dafür Glück und eine gute Freundin braucht (Karoline Bär), das lässt sich zwar frühzeitig erahnen – schön ist es dennoch. (Text-Stand: 17.8.2020)

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Fernsehfilm

WDR

Mit Henny Reents, Karoline Bär, Steve Windolf, Martin Brambach, Serkan Kaya, Daniel Wiemer, Picco von Grote, Simon Böer, Otto Emil Koch, Friederike Bellstedt, Martin Horn, Marc Fischer

Kamera: Philipp Timme

Szenenbild: Julian Augustin

Kostüm: Brigitte Nierhaus

Schnitt: Florian Drechsler

Musik: Oliver Biehler

Redaktion: Elke Kimmlinger

Produktionsfirma: Zeitsprung Pictures

Produktion: Michael Souvignier, Till Derenbach, Katrin Kuhn

Drehbuch: Jörg Lühdorff

Regie: Jörg Lühdorff

Quote: 3,78 Mio. Zuschauer (13,2% MA); Wh. (2023): 3,19 Mio. (13,7% MA)

EA: 09.09.2020 20:15 Uhr | ARD

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