Gar nicht so einfach, die wilden 68er-Jahre von einem Sauerland-Kaff aus zu erzählen. Berlin und die Studentenproteste sind weit weg, allerdings hat der in einer Fabrikanten-Familie aus der Provinz angesiedelte Generationenkonflikt auch seinen Reiz. In der zweiten Staffel von „Unsere wunderbaren Jahre“ sorgt das besondere Verhältnis von Christel Wolf (Katja Riemann) zu ihrem Enkel Winne (Damian Hardung) für einen flotten Einstieg. Die taffe Direktorin will nicht etwa ihrer ältesten Tochter Margot (Anna-Maria Mühe) die Verantwortung für das Familienunternehmen anvertrauen, sondern lieber Margots Sohn als ihren Nachfolger aufbauen. Die gegenseitige Sympathie zwischen Großmutter und Enkel, zwischen der unkonventionellen Firmenchefin und dem rebellischen jungen Mann, kann sich insbesondere bei den gemeinsamen Ausfahrten und in verschiedenen Dialogen entwickeln. Winne bringt der Großmutter, die bei einem Tieffliegerangriff im Krieg ein Bein verloren hatte, das Autofahren bei. Und nach der Fahrstunde teilen sie sich auch mal einen Joint.
Riemann spielt mit erfrischender Power (und eindrucksvollem silbernen Haar-Turm) die verwitwete Unternehmerin, die seit dem Selbstmord ihres in die Nazi-Verbrechen verwickelten Mannes in der ersten Staffel die Verantwortung für das Werk in Altena trägt. Zu Beginn sichert sie sich den wichtigen Auftrag für die Fabrikation der Zwei-Mark-Rohlinge und erweist sich dabei als zupackende Verhandlerin, die sich auch nicht scheut, gegenüber dem Finanzminister und seiner Delegation einen herrischen Ton anzuschlagen. Christel Wolf ist als starke und lebenserfahrene Frau und Bewahrerin des Familienerbes die zentrale Figur der zweiten Staffel: eine zähe Kämpferin, die sich in einer männlich dominierten Gesellschaft behauptet und sich gleichzeitig immer mehr vom Dünkel der Vergangenheit löst. Ihre Härte bekommen aber auch ihre Töchter zu spüren, zu denen sie keine innige Beziehung hat. Die Mutter-Töchter-Konflikte sind der familiäre rote Faden, verwoben mit dem Existenzkampf um das Unternehmen, das zunehmend unter Druck gerät.
Foto: WDR / Martin Valentin Menke
Winne ist sympathisch durch und durch – Klischee pur, eine Art James Dean von Altena. Man fragt sich, wie der Sprössling einer solchen Familie mitten im konservativen Sauerland ein derart kritisches Bewusstsein entwickelt haben soll, aber als cooler Typ, der das Abenteuer liebt und für seine Freunde einsteht, macht die Figur Spaß und erfüllt ihre Funktion perfekt, auch dank der Ausstrahlung des Darstellers. Keine Zeit verliert Headautorin und Regisseurin Mira Thiel mit der zentralen Lovestory: ein Blick genügt. Die hübsche Dressurreiterin Gabriela (Rocío Luz) wird vom großen Gegenspieler der Familie Wolf aus Argentinien mit nach Altena gebracht. Was in Argentinien geschah, warum Gabrielas Eltern nicht am Flughafen erschienen waren, als die Familie vor der Militärdiktatur fliehen wollte, bleibt im Dunkeln. Alt-Nazi Walter Böcker, den Hans-Jochen Wagner wieder sehenswert mit raumgreifender, ewiggestriger Bosheit ausstattet, kehrt als Pferdezüchter zurück, betreibt aber einträgliche Waffengeschäfte. Im Tresor stapeln sich die Geldbündel. Gabrielas Wandel in der dritten Folge geht ein bisschen flott: Eben noch verteidigte sie Böcker als ihren „Retter“, doch als Winne und sein bester Freund Bijan (Omid Memar) bei einer Demo gegen die Alt-Nazis in Altena in Bedrängnis geraten, solidarisiert sie sich und wendet sich gegen Böcker.
Mit dem in Altena geborenen Bijan und seinen aus dem Iran eingewanderten Eltern wird die Brücke zur Studentenbewegung geschlagen. Auch in diesem Nebenstrang wird der Generationenkonflikt thematisiert. Bijan will sich in Berlin der Revolution anschließen, seine Eltern wollen ihm mit einem Studium in Bonn eine bessere Zukunft ermöglichen. Der Vater (Mohammad-Ali Behboudi) hat sich als Arzt in Altena niedergelassen, die Mutter (Neda Rahmanian) trägt als Chemikerin zum geschäftlichen Erfolg der Firma Wolf bei. Auf Fernseh-Bildschirmen flimmern gelegentlich Archivbilder von historischen Ereignissen, vom Schah-Besuch, den tödlichen Schüssen auf Benno Ohnesorg, dem Attentat auf Rudi Dutschke, schließlich von der Regierungserklärung Willy Brandts im Bundestag („Mehr Demokratie wagen“). Ausdrucksstark ist aber auch ein Ausschnitt, in dem eine griechische Arbeiterin dem verblüfften Fernsehreporter erklärt, sie wolle in Deutschland bleiben.
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Den „Gastarbeitern“ ist ein wichtiger Nebenstrang der Handlung vorbehalten. Sie arbeiten im Wolf-Werk, haben eingeschränkte Rechte, dürfen nicht mit den deutschen Kollegen in der Kantine essen (wovon die ansonsten allseits präsente Direktorin Wolf seltsamer Weise nichts weiß) und bilden eine ausgegrenzte Gruppe, die auch nicht zur 600-Jahre-Feier in Altena eingeladen wird. Winne, der von der Chefin als Vorbereitung auf seine zukünftige Rolle zur Arbeit im Werk genötigt wird, freundet sich mit dem Italiener Matteo (Valerio Morigi) an und lässt sogar die mit Bijan vereinbarte Flucht nach Berlin sausen, um Matteo und seine Kollegen vor einer ungerechtfertigten Anzeige wegen eines Brandes in der „Gastarbeiter“-Baracke zu bewahren. Das ist gut gemeint, aber wie so häufig in historischen TV-Dramen ist das Gut-Böse-Schema allzu leicht zu entschlüsseln. Und wenn die italienischen Arbeiter in ihren Baracken fröhlich schwatzen und musizieren, sieht das eher nach romantisch-folkloristischer Verklärung aus. Immerhin erfährt Matteo mit einer unwahrscheinlichen Affäre später noch eine gewisse Aufwertung, die freilich ebenfalls nicht frei von Klischees ist.
Von den drei Töchtern ist nur noch eine in der üppigen Wolf-Villa übriggeblieben, ausgerechnet die kühle, strenge Margot, die in der ersten Staffel noch mit ihrem Nazi-Ehemann aus dem Elternhaus geflohen war. Als alleinerziehende Mutter eines unehelichen Sohnes wurde sie zwar von Christel wieder aufgenommen und arbeitet nun als Personalchefin im Werk, an dem eisigen Verhältnis zwischen beiden hat das aber nichts geändert. Christel schätzt Margots Verstand, misstraut aber ihrem Herzen, wie sie sagt. Auch ihr Sohn Winne, den Margot am liebsten zur Bundeswehr schicken will, bringt nur Verachtung für seine Mutter auf. Anna-Maria Mühe spielt die Margot meist mit einer Beton-Miene, dass es einen fröstelt. Sie ist eine undurchdringliche, unglückliche Person, die aber am Ende der zweiten Staffel für einen hübsch bösartigen Twist sorgen darf.
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Eine unglückliche Mutter ist auch Christels Tochter Gundel (Vanessa Loibl), die sich mit dem Schuhhändler Benno Krasemann – Franz Hartwig gab die Rolle leider an Merlin Sandmeyer ab – eine eigene, bürgerliche Existenz aufbauen wollte. Doch Gundel fühlt sich allein gelassen von Benno, der oft auf Dienstreise unterwegs ist. Überdies kann sie die von allen erwartete Mutterliebe für Baby Paul nicht empfinden. Also flieht sie ohne Benno und Paul zu einer Freundin, die in einer Kommune in Köln lebt und gerade einen Kinderladen gründet – ein nicht sehr ausgefeilter Flower-Power-Schauplatz, aber immerhin: Fröhlich tobende Kinder, bunt bemalte Wände und Körper bilden in diesem Handlungsstrang die visuelle Gegenwelt zur Arbeiterwelt in der (durchaus eindrucksvoll ausgestatteten und in Szene gesetzten) Fabrik sowie zum piefigen Schuhladen, in dem zwei wunderbar garstige Verkäuferinnen das Frauenbild der Nachkriegszeit repräsentieren.
Solch schwarzer Humor ist Balsam für eine melodramatische Serie, die nicht frei von Pathos ist, aber unter der Regie von Mira Thiel etwas lebendiger, vielfältiger und einfallsreicher als in der ersten Staffel geraten ist. Auf irritierende Weise komisch sind etwa die überdrehten Szenen mit dem sozialdemokratischen Bürgermeister Jürgen Vielhaber (Ludwig Trepte) und seiner Frau Regina (Hanna Plass), die für die im Wirtschaftswunder zu Wohlstand gekommenen Emporkömmlinge stehen – ein Wohlstand, der nun während der Rezession Ende der 1960er Jahre in Gefahr gerät. Trepte und Plass spielen die Vielhabers mit ihrem Hunger nach Geld, Sex und Anerkennung wie karikaturenhafte Typen aus einer Reality-TV-Serie. Tochter Betty (Ella Lee) träumt in diesem Elternhaus verständlicher Weise von einem Mann, der sie erlöst und in ein stinknormales, spießiges Eheleben entführt. Wolf-Tochter Nummer drei, Ulla (Elisa Schlott), die in der ersten Staffel noch eine tragende Figur war, tritt hier erst ab Folge vier in Erscheinung. Ulla ist mit ihrem Mann Tommy (David Schütter) aus Überzeugung nach Ost-Berlin gezogen und arbeitet dort als Ärztin. Ein tragisches Ereignis – ein beachtlich harter Einschnitt zur Mitte der zweiten Staffel – bringt die vier Frauen wieder zusammen und einander näher. In der zweiten Hälfte gewinnt die Serie deshalb auch an Tiefe. An Tempo und dramatischen Wendepunkten mangelt es ohnehin nicht. (Text-Stand: 18.2.2023)