Alex Schwarz (Felix Klare) saß für den Mord an seiner Frau sieben Jahre im Gefängnis. Weil der damalige Hauptbelastungszeuge seine Aussage widerruft, spricht ihn das Gericht nun frei. Die Staatsanwaltschaft geht allerdings erwartungsgemäß in Revision. Der Fall wird der jungen Kriminaloberkommissarin Katrin Jahnke (Britta Hammelstein) übertragen. Professionell und unvoreingenommen macht sie sich an die Sichtung der Akten und an die neuerlichen Ermittlungen, obwohl sie mit Jan Menhart (Steven Scharf), vor sieben Jahren der leitende Beamte, liiert ist und obwohl sie – ähnlich wie die Öffentlichkeit – in Schwarz nach wie vor den Hauptverdächtigen sieht. Auch alle, denen er damals den Schuldspruch „verdankte“, sind noch immer davon überzeugt, dass er seine Ehefrau erschlagen und in einem See ertränkt hat. Diese Personen werden allerdings zusehends unruhig. Beispielsweise Sven Kolbeck (Florian Panzner), einst der beste Freund von Schwarz. Oder Marion (Anna Loos), die Schwester der Toten; sie reagiert geradezu panisch auf den Freispruch und Alex‘ Wunsch, seine Kinder zu sehen. Der 15jährige Lasse (Yuri Völsch) und die elfjährige Lena (Ruby M. Lichtenberg) sind während der Haft ihres Vaters bei Marion und ihrem Mann Uwe (Godehard Giese), die selbst keine Kinder bekommen können, aufgewachsen. Dieses Familienglück sehen die Zieheltern gefährdet. Die Kinder selbst sind hin- und hergerissen zwischen ihren Gefühlen und dem, was sie von anderen über ihren Vater hören. Hat er wirklich ihre Mutter umgebracht? Der einzige, der stets zu Alex Schwarz gehalten hat, ist sein Bruder Daniel (Sascha Alexander Gersak). Der hat in den letzten Jahren sein Leben ganz der Rehabilitierung seines Bruders geopfert.
Foto: Degeto / Christine Schröder
Der 173-minütige Fernsehfilm „Unschuldig“ geht von einer nicht gewöhnlichen Krimi-Situation aus und transzendiert sie über die Charaktere und ihre sehr speziellen Beziehungen zueinander in Richtung eines existentiellen Dramas. Dabei geht es nicht nur bei der Hauptfigur um sehr viel. Denn weil die Schicksale eng miteinander verwoben sind, kann das Glück des einen schnell zum Unglück des anderen werden und umgekehrt. Die knapp drei Filmstunden werden gut genutzt. Zwei Drittel der Zeit wird der Beweis der Unschuld geführt, und ein Drittel wird benötigt, um den wahren Täter zu ermitteln. Über der gesamten Handlung aber steht in jeder Phase die Frage: Was macht die jeweils veränderte Situation mit den Menschen und ihren Beziehungen? Nach und nach kehren sich die Verhältnisse um – bis schließlich die, die Alex Schwarz als Mörder diffamierten, selbst die Hauptverdächtigen sind und spüren müssen, was es heißt, möglicherweise alles zu verlieren. Autor Florian Oeller („Tödliche Geheimnisse“) lässt also das Drama deutlich über den Krimi obsiegen. Durch die laufenden Ermittlungen kommen immer neue Wahrheiten über die Menschen, die Alex Schwarz vor sieben Jahren in den Schlamassel gerissen haben, ans Tageslicht. Das verdichtet die (zwischen)menschlichen Dimensionen der Geschichte, dadurch werden aber auch die Ereignisse in der Mordnacht immer wieder anders bewertet. Die Qualitäten des Dramas und die klassische Krimi-Spannung (wer war der Täter?) schaukeln sich quasi gegenseitig hoch.
Der dramaturgische Antrieb von „Unschuldig“ ist die Dynamik, die aus den Figuren-Konstellationen, die sich ständig im Wandel befinden, gezogen wird. Die Ermittlungen verändern nicht nur das Verhältnis beispielsweise zwischen Schwarz und seiner Schwägerin oder Schwarz und seinem Ex-Freund, sondern sie verändern eben auch Beziehungen, an denen die Hauptfigur nicht beteiligt ist. So wird die Ehe der Zieheltern im Schlussdrittel auf eine harte Probe gestellt. Das wiederum beeinflusst – durch das vernünftigere Verhalten von Alex Schwarz – auch die ohnehin schwächer gewordene Bindung zu den Kindern. Diese sind die doppelt Leidtragenden, denn sie machen die irritierende Erfahrung von vor sieben Jahren jetzt noch einmal mit: Ist etwa einer ihrer liebevollen Übergangs-„Eltern“ der Mörder ihrer Mutter? Dass Oeller im Schlussdrittel sein Augenmerk vermehrt auf die Kinder richtet, stärkt den Drama-Anteil der Geschichte. Sogar eine externe Beziehung spielt eine wichtige, reflexive Rolle: So steht die Liebesbeziehung zwischen der Kommissarin und dem leitenden Ermittler von damals schneller als erwartet vor dem Aus. Das wiederum hat Auswirkungen auf die Arbeit von Jahnke, der durch die private Verunsicherung (wie konnte ihr das wahre Gesicht ihres Kollegen entgehen?) nun auch Patzer bei den Ermittlungen unterlaufen. Die kluge Engführung der Interaktionsdramaturgie hat also Konsequenzen auch für den Krimi.
Aber nicht nur das Gleichgewicht zwischen Drama und Krimi, zwischen Psychologie und Spannungsdramaturgie stimmt in diesem ARD-Premium-Movie – auch die Interaktionen der Charaktere und der filmische Erzählfluss sind bestens aufeinander abgestimmt. Stilsicher, aber nicht überstilisiert – wie der Vorspann einen noch ahnen lässt – ist die Bildsprache, die Regisseur Nicolai Rohde („Julia Durant ermittelt“) und Kameramann Felix Novo de Oliveira („Carneval – Der Clown bringt den Tod“) für den Film entwickelt haben. Eine vom Drehbuch, der Landschaft (mit Meerblick) und vom Zweiteiler-Format vorgegebene epische Erzählweise, bei der die emotionalen Befindlichkeiten der Hauptfiguren ausgekostet werden, bestimmen Tempo und Timing. Ein moderner, Farb-entsättigter Look liegt über den Bildern, der Score schlägt der emotionalen Geschichte angemessene, nie überzogene Molltöne an. Die Szenenüberleitungen sind abwechslungsreich gestaltet: mal motiviert der Dialog den Schnitt, mal leitet ein markantes Bild den räumlichen Wechsel ein, mal erklärt erst die neue Szene den Cut. Das Wesentliche bei dieser Montage ist die Wirkung: Es entsteht ein Erzählfluss, der stets der Logik der Handlung folgt und der den Zuschauer vor keine allzu großen Probleme stellt. Das ist keine schlechte Entscheidung bei einem Fernsehfilm mit doppelter Laufzeit.
Szenen, die in Erinnerung bleiben, sind die Verhöre, in denen sich die Köpfe aus dem Schwarz des Hintergrunds markant herausschälen. In einer Szene geht die Kamera ganz nah ran, wählt extreme Perspektiven und versinnbildlicht damit, wie die Kommissarin mit ihren Fragen die Schwägerin von Schwarz psychologisch massiv unter Druck setzt. Auch weniger dramatische Gespräche hinterlassen einen starken Eindruck. Beispielsweise das erste Wiedersehen nach sieben Jahren zwischen Vater und Sohn, in dem sich das ganze Dilemma der Entfremdung spiegelt. Scham und Unsicherheit auf beiden Seiten. Auch ein Stück Verzweiflung. Doch dann kommt es zu einer langsamen Annäherung – über die Physis: Rennen am Strand statt Reden. Oeller und Rohde nehmen sich Zeit für diese für den Fortgang der Drama-Handlung wichtigen Situation. Und als Zuschauer erkennt man an einer Szene wie dieser, dass „Unschuldig“ kein kleinteiliges Handlungsdrama ist. In einem solchen Film nämlich hätte man noch einmal künstlich auf die Gefühlstube gedrückt, indem man den Jungen das „schwierige“ Gespräch etwa mit den Worten „Ich muss jetzt gehen“ früh hätte abbrechen lassen. Stattdessen gewinnen die Charaktere die Oberhand über eine solche simple Kontrast-Dramaturgie.
Foto: Degeto / Christine Schröder
Allenfalls zu Beginn kollidieren die konträren Meinungen und rigiden Haltungen, etwa von Alex Schwarz und seiner Schwägerin. Dieser Hass, diese Wut, auch der Jähzorn des Ex-Häftlings wirken aber keineswegs dramaturgisch aufgesetzt, sondern ergeben sich bald immer nachvollziehbarer aus der (Vor-)Geschichte. Dazu tragen maßgeblich auch die hervorragenden Schauspieler bei. Anna Loos spielt öfter Frauen, die zornig sind und emotional neben sich stehen; so stimmig wie hier verkörpert sie diesen Typus Frau aber nicht immer. Auch bei der Hauptfigur setzt Felix Klare starke Akzente jenseits von billigem Mitleid und dem Image des netten, sympathischen Mannes. Vielmehr spielt der „Tatort“-Star seinen Schwarz so, wie der sich fühlt: untröstlich darüber, dass ihm sieben Jahre seines Lebens geklaut wurden. Sogar vom „bösen Blick“ ist die Rede und davon, dass die eigene Frau vor ihm Angst gehabt haben soll. Diesen Blick meistert Klare glaubwürdig, nicht, weil er „böse“ ist, sondern weil ihn die sieben Jahre Knast verändert haben – und dies eher nicht nur zum Guten. Wie immer sehr überzeugend ist auch Godehard Giese als moderater Schwager und „Bremser“ seiner alles anderen als besseren Hälfte. Eine ähnliche Aufgabe übernimmt Sascha Alexander Gersaks Daniel: Er überzeugt seinen Bruder davon, dass dessen Rachephantasien kontraproduktiv seien. Die zweitgrößte Bandbreite an Emotionen hat Britta Hammelstein mit ihrer Figur zu bewältigen. Das macht sie mit minimalem Ausdruck – und doch sind für den Zuschauer die Empfindungen ihrer Kommissarin, der die Hoffnung auf das angestrebte Familienglück genommen wird, in all ihren Nuancen spürbar. Bevor Jahnke allerdings in ihre desillusionierte Phase rutscht, kann man die Schauspielerin, die zuletzt in ARD-Sonntagskrimis in Psycho-Rollen ebenso überzeugte, endlich mal wieder lächeln sehen.