Karla (Iris Berben) ist ein Freigeist. Die Mittsechzigerin hat ein sehr spezielles, vor allem ein selbstbestimmtes und wildes Leben hinter sich. Der Rock & Roll war der Taktgeber für die Fotografin, die berühmte Bands auf ihren Tourneen begleitete. Jetzt hat sie die Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs bekommen. Es bleibt ihr nur noch wenig Zeit. Ob der Beistand eines Sterbebegleiters das Richtige für sie ist? Der verwitwete unsichere Fred (Godehard Giese) liegt jedenfalls nicht auf ihrer Wellenlänge; für Musik hat er kein Empfinden, seine Welt ist die Verkehrsplanung. Dafür versteht sich Karla mit Freds Teenagersohn Phil (Claude Heinrich) umso besser. Der liest Rilke, liebt Lyrik, schreibt Gedichte und überwindet bei Poetry Slams seine Schüchternheit. Die beiden kommen sich näher, weil er für sie ihr Lebenswerk, tausende Konzertfotos, digitalisiert und er sie deshalb regelmäßig besucht. Ähnlich fasziniert wie von dieser klugen, reifen Frau ist der Junge von der flippigen Rona (Zoë Valks), die in Karlas Haus wohnt und die er wegen ihres Outfits für eine Prostituierte hält. Langsam gewöhnt sich die sterbende Frau auch an ihren Sterbebegleiter. Mit ihrer Lebenserfahrung und ihrem weiblichen Blick auf diese seltsam leblose Vater-Sohn-Beziehung wird sie – ohne es darauf anzulegen – für beide zu einer etwas anderen Lebensberaterin.
„Der Tod ist ein großes Tabu, dabei gehört er zum Leben, und ich versuche, genau an dieser Schnittstelle einen sinnvollen Beitrag zu leisten.“ Es klingt angelernt, wie der ehrenamtliche Sterbebegleiter der Sterbenden die Motivation für seine Arbeit erklärt. Es klingt vor allem gut gemeint, und es ist nur die halbe Wahrheit. „Machst du das wegen Mama?“, fragt der Sohn den Vater, als er von dessen erstem Einsatz als Sterbebegleiter hört. „Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster“ ist kein handelsüblicher ARD-„Endlich Freitag“-Film, sondern ein Karfreitag-Ausnahme-Drama, das nicht in Form dieser bekannten Floskeln („Der Tod gehört zum Leben“) Botschaften vor sich her trägt. Hier gibt keiner altkluge Ratschläge für ein besseres Leben. Es sind die Begegnungen dreier Menschen, die etwas verändern, vor allem im Leben derer, denen genug Zeit bleibt, in ihrem Leben eine neue Wende zu geben. Dabei kommt es dem Film von Till Endemann nach dem Drehbuch von Astrid Ruppert deutlich zu zugute, dass er kein Original-Drehbuch für den ARD-Freitagsfilm ist, sondern nach einer Buchvorlage, dem gleichnamigen Roman von Susann Pásztor, entstanden ist. Die kluge Reduktion auf zwei Geschichten, die des Sterbens und die einer Vater-Sohn-Beziehung, auf drei Hauptfiguren und drei tragenden Nebenfiguren bilden den dramaturgischen Kern.
Astrid Ruppert und Till Endemann erzählen die beiden Geschichten pur, ohne narrative Geschmacks-Verstärker und ohne Zusatz von Süßstoff. Jeder Nebenplot, selbst die leichteren mit der quirligen Nona oder dem stets hilfsbereiten Hausmeister (Axel Werner), ist nicht dazu da, von den schweren „Themen“ abzulenken, vielmehr vermitteln diese beiden Figuren – ohne jedes Ausrufezeichen – eine Ahnung von der Lebendigkeit des Lebens, von der sich der Witwer, der ein guter Vater sein will, seit vielen Jahren verabschiedet hat. Das Motiv „von einer Todgeweihten zu leben lernen“ mag ein pädagogisches, typisch öffentlich-rechtliches Erzähl-Muster sein, doch die Art und Weise, wie die Geschichte erzählt wird, diese Konzentration auf das Wesentliche, auf knappe Gespräche, auf Augen-Blicke ermöglicht eine sinnliche, gleichsam tiefe (Seh-)Erfahrung. Die Situation im Film, die der Titel beschreibt, „Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster“, ist vielleicht der bewegendste Moment des Neunzigminüters. Geerntet wird in dieser Szene etwas, was durch die besondere Machart der Geschichte und der Inszenierung systematisch vorbereitet wird. Der Film fährt von Beginn an die Reize herunter. Man muss sich auf das Tempo und die Tonlage einstellen und auch mit den eigenwilligen und in sich gekehrten Charakteren muss man erst warm werden. Die solchen Dramen zugeneigten Zuschauer wird es dann umso heftiger erwischen. Spätestens in dieser stillen, sehr auf Distanz achtenden Sterbeszene. Aber es gibt bereits früher Momente, die einen emotional anfassen. Nach etwa einer Filmstunde sagt Klara den Satz: „Alte, sterbende Frauen sind nicht der richtige Umgang für einen jungen Mann wie dich.“ Sie möchte Phil ihren Sterbeprozess ersparen. Er aber will sie weiterhin besuchen, und er verlässt den Raum mit dem Satz: „Ich finde, Du bist genau der richtige Umgang.“ Das mag sentimental wirken, so wie es allerdings im Film gespielt wird, mit Pausen, mit Blicken, mit leichtem Kloß im Hals, ist das nicht sentimental, sondern wahr und wahrhaftig.
Ein existentielles Drama wie „Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster“ steht und fällt mit der Besetzung. Der 17jährige Claude Heinrich, bereits mit fünf Jahren Synchronsprecher und seit 2015 regelmäßig in Filmen zu sehen, gibt seinem ungewöhnlichen Teenager ein ebensolches Gesicht: emotional unsicher, schüchtern, wortkarg, obwohl oder gerade weil er die Sprache liebt. Godehard Giese als sein nicht minder in Gefühlsdingen ungelenker Vater ist seit über zehn Jahren für jedes Drama ein Gewinn. Und Iris Berben erweitert hier das Spektrum ihrer uneitlen Altersrollen („Hanne“, „Nicht totzukriegen“, „Altes Land“) um einen weiteren eigenwilligen Charakter. Wie bei der Dramaturgie ist Reduktion auch hier das Stichwort. Das Wegdrücken des Leidens, der direkte, offene Umgang mit dem Sterben kennzeichnen Klara – und Berben spielt das genau so: ohne Schmerzgebaren, ohne Seelenstriptease, ohne Rührseligkeit. Ihre Figur öffnet sich, indem sie von sich erzählt, von ihrem Beruf, ihrer Passion. „Man kann sich gut hinter einer Kamera verstecken.“ Ihre kritische Selbsterkenntnis („Leben ist wichtiger“) will sie ihrem Ge-genüber nicht aufoktroyieren. Phil und ein Stück weit auch Fred ziehen selbst ihre Schlüsse daraus. Phil versteckt sich nicht länger, er zeigt sich und seine Gefühle öffentlich beim Poetry Slam. Eine Schlussszene, die „das Leben feiert“, aber das ganz anders als es diese vollmundige Metapher nahelegt, auf eine dem Teenager eigene, sehr empfindsame und originelle Weise.