Als die Nationalsozialisten 1940 quasi den gesamten Kontinent in ihrer Gewalt hatten, war Marseille für viele europäische Flüchtlinge dank der von deutschsprachigen Emigranten in New York gegründeten Hilfsorganisation Emergency Rescue Commitee das letzte Tor in die Freiheit. „Transatlantic“, eine deutsche Netflix-Produktion mit internationaler Besetzung, erzählt die Geschichte des ERC. Die zentralen Figuren der Serie, die von Ferne an Anna Seghers’ Exilroman „Transit“ erinnert, aber durch das Buch „The Flight Portfolio“ von Julie Orringer inspiriert worden ist, sind ebenso authentisch wie die Geflüchteten. Kopf der Fluchthilfe ist der frühere Berliner Auslandskorrespondent Varian Fry (Cory Michael Smith). Seine Mitstreiterin Mary Jayne Gould (Gillian Jacobs) ist die Tochter eines offenbar wohlhabenden amerikanischen Erfinders, der ihr jedoch schließlich den Geldhahn zudreht. Gegenspieler der beiden sind der amerikanische Konsul (Corey Stoll) in Marseille, der die Arbeit des ERC nach Kräften sabotiert, und der örtliche Polizeichef (Grégory Montel), der die Ausländer in seiner Stadt ohnehin als Kriminelle betrachtet.
Foto: Netflix / Anika Molnar
Für die zum Teil winzigen Gastrollen der weltberühmten Kunst- und Geistesschaffenden, denen das ERC zur Flucht verholfen hat, konnten einige populäre deutsche Schauspieler gewonnen werden, darunter neben Dominique Horwitz auch Moritz Bleibtreu als Philosoph Walter Benjamin, Alexander Fehling als Maler Max Ernst und Jonas Nay als Satiriker Walter Mehring. Gerade seine Mitwirkung ist sicher auch eine Verbeugung vor Autorin und Produzentin Anna Winger, die gemeinsam mit ihrem Mann Jörg Winger die Spionageserien „Deutschland 83“ und „Deutschland 86“ (mit Nay als Star) geschrieben hat. Als Autorin und Produzentin hat sie außerdem Maria Schraders Netflix-Miniserie „Unorthodox“ (2020) maßgeblich mitgeprägt. Die aus den USA stammende „Transatlantic“-Initiatorin (Co-Creator: Daniel Hendler) wohnt seit zwanzig Jahren in Berlin und hat als Kind im Freundeskreis ihrer Eltern einige der im US-Exil lebenden Flüchtlinge kennengelernt.
Abgesehen von den Einzelschicksalen erzählt die siebenteilige Serie viele kleine Geschichten von Liebe und Verrat, aber es geht auch um Historie, denn als die Vichy-Regierung im unbesetzten Süden Frankreichs mit den deutschen Faschisten kollabroiert, spitzt sich die Lage in Marseille immer mehr zu: Eine Flucht per Schiff ist nun nicht mehr möglich, es bleibt nur noch der Weg über die Pyrenäen. Da die Serie mit Blick auf den globalen Netflix-Markt produziert worden ist, orientieren sich Handlung und Inszenierung an einer Form, die keinerlei Widerspruch provoziert. Es gibt zwar spannende Szenen, aber der Nervenkitzel ist überschaubar; niemand braucht sich vor unnötigen Gewaltdarstellungen fürchten. Um Leben und Tod geht es nur theoretisch; selbst eine waghalsige Befreiungsaktion britischer Kriegsgefangener wirkt eher wie ein großes Abenteuer. Für emotionale Höhepunkte sorgen neben einigen tragischen Ereignissen daher in erster Linie die gern melodramatisch umgesetzten Momente, wenn beispielsweise die längst in einen anderen Mann (Ralph Amoussou) verliebte Fluchthelferin Lisa Fittko (Deleila Piasko) in einer Mischung aus Bestürzung und Erleichterung feststellt, dass ihr Gatte (Hanno Koffler) keineswegs gestorben, sondern in Gefangenschaft geraten ist.
Foto: Netflix / Anika Molnar
Der konsequente Verzicht auf Widerhaken lässt das Ergebnis trotz des sichtbaren optischen Aufwands allerdings allzu glatt und kantenlos wirken. Regie bei den ersten vier Folgen führten die beiden Schweizerinnen Stéphanie Chuat und Véronique Reymond, die ihr Renommee dem Geschwisterdrama „Schwesterlein“ (2019) mit Nina Hoss und Lars Eidinger verdanken; der Film steht in der Arte-Mediathek. Die Folgen fünf bis sieben hat Mia Meyer inszeniert; ihr Kinodebüt war das Ehedrama „Die Saat“ (2022) mit ihrem Lebensgefährten Hanno Koffler. Einige Handlungsstränge hätten sich sicherlich auch straffer gestalten lassen, aber das vielköpfige Ensemble ist sehenswert, selbst wenn das zentrale Duo zumindest hierzulande nicht die Strahlkraft der prominenten deutschen Mitwirkenden hat.
Eine echte Entdeckung fürs hiesige Fernsehen ist dagegen der Österreicher Lucas Englander in einer weiteren Hauptrolle als Freiheitskämpfer, der seine Schwester (Morgane Ferru) allein nach Israel schickt und fortan das ERC unterstützt. Bereits mehrfach in deutschen Produktionen positiv aufgefallen ist die Schweizerin Deleila Piasko, die im letzten Jahr schon in Leander Haußmanns Kinofilm „Stasikomödie“ sowie in dem ARD-Zweiteiler „Das Weiße Haus am Rhein“ für die Glanzpunkte gesorgt hat. Ebenfalls eine durchgehende Rolle spielt Henriette Confurius als Frys Assistentin. Es empfiehlt sich im Übrigen dringend, die untertitelte Version zu schauen. In der synchronisierten Fassung sprechen alle Beteiligten ein perfektes Deutsch, allerdings inklusive dieser typischen seltsamen Synchron-Kunstpausen; das internationale Sprachengemisch ist ungleich interessanter.