Die erste Regel besagt: Heidi (Odine Johne, „Lauchhammer – Tod in der Lausitz“) bestimmt. Weil wir keiner Model-WG beim Einkleiden zuschauen und Heidi mit Nachnamen nicht Klum heißt, ist schon diese Regel absurd. Wer lässt sich denn auf sowas ein? Juklas (Julius Feldmeier) und Becky (Kristin Suckow) tun es, Akki (Lea van Acken) nur bedingt. Und worauf läuft das alles hinaus? Bevor sich der Zuschauer auf Psycho-Kämpfe à la Fassbinder oder Thome vorbereitet, dreht sich schon wieder alles in die andere Richtung. Mit einer Aschenbrödel-Challenge will Heidi sich ein Zweier-Date mit Juklas sichern. Becky, zum Trennen von Reis und Wildreis aufgefordert, zuckt nur mit den Schultern, schiebt etwas Reis hin und her und springt in der nächsten Szene schon wieder mit ins Bild. Die Message: Alles nicht so ernst gemeint.
Soundtrack: DJ Shadow („Blood on the Motorway“), Ata Kak („Yemmpa Aba“), Kevin D. Mann („BoNSneakerUno“), Chemical Brothers („Catch me I´m falling“), Baccara („Yes Sir, I can boogie“), Midnight Oil („Beds are burning“), Groove Armada („Don´t Give Up“), Kristoffer Fogelmark („Love was may Alibi“), Cat Stevens („Peacetrain“), Basile di Manski („International Airport“)
Die zweite Regel besagt, dass sich alle alles teilen. Inklusive ihrer Körper. Passend zu dieser Maxime kehrt die visuelle Grundanordnung – zumindest in den ersten Episoden – verlässlich zur Aufsicht auf zerwühlte Laken und sehnsuchtsvolle Blicke zurück. In dieser Versuchsanordnung gibt es kein Vor und kein Zurück. Das Abstruse der Situation wie vieler Dialoge unterstreicht die Kamera mit einem Stop-and-Go-Verfahren, dass in Bewegungsabläufe und Begegnungen minimale Brüche (als kein Godardscher Jump-Cut) einbaut. Das festgelegte Machtgefüge ist dabei immer präsent. Heidi manipuliert, intrigiert, verführt und schließt Beckys Freund Micha (Leon Ullrich) aus der „Gemeinschaft“ aus. Regeln siegen über Offenheit. Nahezu alle Beteiligten outen sich mehr und mehr als Ego-Shooter. Sie leben aus, was zivilisierte Menschen zu sublimieren gelernt haben. Besitzansprüche, Eifersucht, Lust auf Macht, kindlicher Trotz. Dabei wird schnell klar, dass auch Akki die Führung beansprucht. Weil Heidi das nicht zulässt, schart sie eine Meute von Heidi-Gegnern um sich. Das alles kommt auch im wahren Leben vor. Neu ist, wie sehr es in „Tod den Lebenden“ den Frauen überlassen wird. Männer sind eher als unattraktive Randfiguren geduldet. Selbst Hauptfigur Juklas, den Julius Feldmeier schnauzbärtig als Schluffi verkörpert, zeichnet sich durch hilflose Gesten und Rückzugsgefechte aus.
Eine Wende und den Austritt aus diesem Mikrokosmos markiert eine Diagnose, die Heidi einen frühen Tod prophezeit. Schuld ist eine Lungenkrankheit, Auslöser die wachsende Schadstoff-Belastung – ergo, der Klimawandel. Ein gewagter Dreisatz, den das Publikum als logisch hinnehmen muss. Genauso wie die Bewaffnung und der Entschluss der Gruppe, nun mit aller Härte gegen das Böse in der Welt vorzugehen. Von Anfang an durchsetzt Regisseur Tom Lass („Druck“, „@ichbinsophiescholl“) die Spielhandlung mit von ihr losgelösten Szenen, in denen die Protagonisten bewaffnet über ödes Gelände ziehen und wahlweise auf Freund und Feind anlegen. „Wenn unsere Gruppe mit Waffengewalt den Klimawandel bekämpfen will, ist klar, dass das falsch ist, und umso deutlicher tritt zutage, wie notwendig und richtig ein entschiedenes Handeln jetzt wäre.“ Heitere Künstlichkeit trifft ernste Absicht. Zumindest im Regie-Kommentar des Pressehefts. Wer nach Erklärungen im Handlungsverlauf sucht, der findet mindestens drei Gründe fürs (gedanklich) wild um sich schießen. Es geht um die persönliche Rache einer todkranken Frau, um die Zukunft eines Kindes, das als Gemeinschaftsprojekt von Heidi, Juklas und Becky in deren Bauch heranwächst, und um die Kontrolle einer Guerilla-Meute, die unter Akkis Führerschaft droht, den Polizeipräsidenten von Berlin (Jörg Schüttauf) zu erschießen.
„Tod den Lebenden“ widmet sich bei aller Absurdität einer ernst zu nehmenden Frage: Wie soll es weitergehen, wenn es kein „weiter so“ gibt? In Teilen der Realität und Politik ist diese Frage angekommen. Die Kunst geht weiter und spielt mit ihr. Allerdings bleibt nach Ansicht der Serie das ungute Gefühl, dass uns verdammt wenig dazu einfällt. Das ist nicht Schuld eines (weitgehend fehlenden) Drehbuchs oder schlechter Recherche, das soll hier so sein und wird bewusst überhöht. Durch mal witzige, mal sinnlose Dialoge und durch erwachsene Menschen Ende 20, die wie Schüler einer Grundschulklasse den Experten gegenübertreten und von Ärztinnen (Milena Dreissig, Anna Grisebach) oder Arzt (Moritz Grove), vom Vater (Jan Henrik Stahlberg) oder von der Oma (Ursula Werner) oder gar dem Polizeipräsidenten (witzig: Jörg Schüttauf) Erklärungen verlangen. Die sie natürlich nicht bekommen.
Die einmonatigen Dreharbeiten zu „Tod den Lebenden“ fanden im Spätsommer 2022 in Berlin statt. Die Idee zum Projekt entstand bereits vor sechs Jahren. Vier der SchauspielerInnen waren mit drei weiteren Autoren am Writers Room beteiligt. In der langen Vorbereitungsphase trafen sich Regisseur und Crew regelmäßig zu einem sogenannten Impro-Lab. Das klingt alles wahnsinnig modern, und es ist ein bisschen zu viel altmodische Befindlichkeit dabei herausgekommen. Gespielt aber ist dieser Impro-Reigen mitunter köstlich, immerhin haben sich hier einige der interessantesten Jungschauspieler:innen (zusammen)gefunden. Ohnehin aber wird das jüngere TV- und Mediathek-Publikum, dem der Junge Deutsche Film (Thome, Lemke; Fleischmann), der frühe Fassbinder oder ein linker Klassiker wie „Weekend“ von Godard nichts mehr sagt, das möglicherweise ganz anders empfinden. Als Alternative zu den gängigen TV-Drama-Verpackungen ist „Tod den Lebenden“ jedenfalls ein aufregender Versuch, der zumindest ehrlich unserer Hilflosigkeit ins Auge schaut. (Text-Stand: 23.8.2023)