Ein Serienkiller sucht das beschauliche Erfurt heim. „Eine Woche dabei und dann sowas.“ Marion Dörner (Anne-Kathrin Gummich), Leiterin der Operativen Fallanalyse, nimmt die Kriminalpsychologin Annett Schuster (Kristin Suckow) in den Arm. Ist ja noch mal alles gut gegangen. Die Bestatter sind mit einem Sarg zu viel vorgefahren… Begonnen hat alles am Tag von Schusters Dienstantritt mit einem bizarren Leichenfund: Ein als gnadenlos bekannter Richter wurde in einen Kühlschrank gepackt, der mitten in der Natur, mit Blick auf die Wartburg, abgestellt wird. Ein Mord aus Rache? Oder ein Ritualmord mit Botschaften an die Ermittler? Der Fallanalytiker Jan Kawig (Bernhard Conrad) sucht erst mal Inspiration in der Kirche; das passt zum Mordszenario mit seinen religiösen Motiven. Der Täter hinterlässt bewusst Spuren. Will er die Kommissare beeindrucken? Ganz offensichtlich spielt er ein Spiel mit ihnen. „Narzisstische Persönlichkeitsstörung mit psychopathischen Merkmalen“: Eine zweite Leiche bestätigt die Diagnose der Psychologin und das Bild vom Ritualmord. Eine tote Frau ist in einer Schlucht abgelegt worden, abermals kunstvoll religiös drapiert. Was das ermittelnde Trio nicht weiß, der Mörder (Wolfgang Menardi) treibt sein Unwesen in unmittelbarer Nähe und hat die Kommissare stets im Blick. Wird dieser Mann weiter töten?
Foto: MDR, Degeto / Gordon Muehle
Neue Krimis haben es relativ leicht bei den auf das Genre konditionierten Fernsehzuschauern, bei einigen Kritikern und wenigen Journalisten, die nicht reflexartig dem Ruf des (Quoten-)Erfolgs folgen, haben es die inflationär von Sendern in Auftrag gegebenen Krimireihen dagegen schwerer. Startet eine solche potenzielle Reihe nicht – wie häufig beim ARD-Donnerstagskrimi – mit zwei Episoden, sondern muss sich mit einem 90-minütigen Einstieg begnügen, hat sie schon mal schlechtere Karten. „Tod am Rennsteig – Auge um Auge“ nutzt diese eine Chance – und kann sogar den Krimi-Skeptiker überzeugen. Das liegt weniger am Serienmörder-Motiv mit seinen aberwitzigen Codes und den stereotypen Genrekonventionen, dafür umso mehr am Modus der Erzählung: Der Täter wird offen geführt. Man sieht, was er tut, ahnt, was er vorhat, und man fragt sich, was das alles soll. Und so bleibt die Rätselstruktur der Geschichte erstmal bestehen und die Frage, was diesen Mann antreibt, lange Zeit unbeantwortet. Und dadurch, dass sich der Täter Kawig und Schuster nähert, die beiden dies aber anfangs nicht mitbekommen, steigt die Spannung. Dieses Mehrwissen beteiligt die Zuschauer:innen aktiv an der Geschichte, macht den Krimi mehr und mehr zu einem Thriller, der es mit dem Nervenkitzel nicht übertreibt, bevor schließlich mit einem perfiden tödlichen Dilemma die Handlung beendet wird.
Überzeugend sind auch die Charaktere und deren Einführung. Was zu Beginn nach dem üblichen Kollegenzwist aussieht, entwickelt sich dramaturgisch weder zum Machtkampf noch zum wirklichen Störfaktor für die Ermittlungen. Die Frau, die von Erfurt nach Boston ging und nun zurückgekommen ist, und der Mann, der seine thüringische Heimat liebt, gehen unterschiedlich an die Fälle heran. „Mein Bauch spricht nicht, ich arbeite mit Fakten“, sagt Schuster, die ziemlich irritiert auf das freie Assoziieren ihres Kollegen reagiert. „Alles, was wir zu Beginn nicht aussprechen, gerät schnell aus dem Blick“, verteidigt der sein Brainstorming. Es ist also nicht das übliche Kompetenzgerangel von Kripo-Platzhirschen, sondern es sind Plädoyers für zwei Methoden. Daraus ergeben sich Reibungen professioneller Natur. Für den Zuschauer ist es nicht schwer zu erkennen, dass sich die zwei gut ergänzen werden. Und dadurch, dass einer der beiden bald emotional stärker in den Fall involviert sein wird, entspannt die Bedrohungslage von außen ohnehin bald die internen Unstimmigkeiten. Und Sticheleien und trockene Ironie sind gute Lockerungsübungen, die sich auch der Zuschauer gefallen lässt. „Essen Sie was mit?“, fragt der Profiler. „Wenn Sie kochen, wie Sie ermitteln, dann lieber nicht“, lächelt die Kollegin. Mit dem Lächeln bricht das Eis ruckzuck.
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Dass das Aussehen und das charmante Wesen einer neu eingeführten Kommissarin zum Auftakt einer Krimi-Reihe (dazu nicht sexistisch) thematisiert wird, ist ein Novum. Hier sind gleich zwei neue Kolleginnen, die Chefin und die Gerichtsmedizinerin Vanessa Sun (Jing Xiang), aufrichtig angetan von dieser hübschen Frau von Welt – und sprechen es ein bisschen verlegen, aber offen aus. Damit kommt ein Aspekt zur Sprache, der beim Schreiben oder Reden über Filme gern unterschlagen wird, obwohl er ein wesentliches Wirkkriterium ist: die Attraktivität von Schauspieler:innen, die sich unweigerlich auch über den Charakter legt. Kristin Suckow ist sicherlich – für alle Zuschauer:innen – das Gesicht von „Auge um Auge“. Zunächst ist ihr Blick streng, später huscht schon mal ein Lächeln über ihre Wangen, bevor ihr Mienenspiel auf der Zielgeraden höchste Konzentration und Alarmbereitschaft signalisiert. Hübsch und jung zu sein und dabei nie beim Gegenüber den Beschützerinstinkt zu wecken , dazu dürfte Regisseurin Maris Pfeiffer mit beigetragen haben. Aber auch die Männerrolle überzeugt durch ihr ungewöhnliches Charisma. Diese Figur Jan Kawig hat was: dieses Abwartende, das Hören aufs Bauchgefühl, diese tiefe Entspanntheit und schließlich die Eingebung aus dem Nichts. Bernhard Conrad spielt das anti-heldisch, eben wie ein sensibler Mensch, der sich erst besinnt, bevor er spricht.
Zum Team gehören neben der Gerichtsmedizinerin noch die Kriminalkommissarin Sabine Limmer (Berit Künnecke), quasi das fleißige Bienchen im Hintergrund. Das fünfköpfige Stamm-Personal ist durchweg gut besetzt, wirkt authentisch, nicht nur deshalb, weil die meisten eine Ost-Biographie haben. Was bei großen Teams bisweilen zum Problem werden kann (beispielsweise bei „Das Quartett“ im ZDF oder beim „Tatort“-Trio Dresden, allerdings nicht beim „Tatort“ Dortmund oder Saarbrücken), sind Gruppenszenen. Da hat man als Zuschauer oft den Eindruck, dass hier jeder seinen Satz bekommen muss. Auch in „Tod am Rennsteig – Auge um Auge“ ergibt sich daraus im ersten Filmdrittel eine künstlich wirkende, konventionelle Kommunikation, die eigentlich nur an den Zuschauer adressiert ist. Später, nachdem ein Teil der Fragenkataloge (warum Kühlschrank? warum diese Nähe? „Spielt er mit uns?“) abgearbeitet ist, werden solche Situationen überflüssig, jetzt konzentrieren sich die Ermittlungen auf die Hauptfiguren. Und für diese Passagen gilt: klare Ansagen, keine überflüssigen Dialoge (der Täter agiert ohnehin meist wortlos) und eine unaufgeregte, an realen Landschaften und Locations orientierte Inszenierung, die die Charaktere ins Zentrum rückt. Fazit: Wer sich nicht stört an dem typischen Serienkiller-Plot, der kann sich gut unterhalten bei diesem im letzten Drittel sehr abwechslungsreichen und handlungsintensiven und doch Charakter-orientierten „Tod am Rennsteig“. (Text-Stand: 31.1.2023)
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