Boxender Altenpfleger: Morgen fang ich wieder an
„Morgen hör ich auf“ sagte sich Bastian Pastewka als Geldfälscher Lehmann in der grandiosen ZDF-Serie. „Morgen fang ich wieder an“, könnte man Ken Dukens Motto als Altenpfleger Mark Tempel in der neuen ZDFneo-Serie „Tempel“ nennen. Der war mal ein erfolgreicher Boxer und steht jetzt schon wieder mit einem Bein im Ring. Was ihn dahin treibt, ist der Kampf um seine Familie und seine Heimat, eine Wohnung im Berliner Wedding.
„Tempel“ ist die erste Eigenproduktion von ZDFneo im Bereich Dramaserie. Sitcoms hat der Lerchenberg-Ableger mit „Eichwald MdB“ und „Lerchenberg“ bereits drehen lassen. Die waren sehr gelungen. Jetzt wagt man sich an ein neues Genre – und gewinnt auch da. Zwar umfasst die Serie nur sechs Folgen à 30 Minuten, doch die haben es in sich. Autorin Conni Lubek (hat die zwei besseren Filme der „Einfach Rosa“-Reihe geschrieben sowie die Curd-Rock-Roman-Trilogie, „Anleitung zum Entlieben“, „Entlieben für Fortgeschrittene“ etc.) hält sich in ihrer ersten Serie nicht lange mit der Einführung der Figuren auf. Es geht gleich zur Sache. In wenigen Minuten ist man mittendrin in der Story um Gentrifizierung. Das brisante Thema bildet den Hintergrund dieser kurzen, aber knackigen Dramaserie.
Eine ZDFneo-Drama-Serie, die schnell zur Sache kommt
Im Mittelpunkt stehen Mark Tempel (Ken Duken) und seine Familie. Zu der gehören seine seit einem Unfall im Rollstuhl sitzende Frau Sandra (Chiara Schoras) und Teenager-Tochter Juni (Michelle Barthel). Die wohnen in einer Altbauwohnung in Berlin-Wedding. Mark arbeitet als Altenpfleger. Zu Beginn sieht man ihn gestresst durch die Straßen kurven. Im Umgang mit einer alten todkranken Dame (Hiltrud Hauschke) zeigt er sich liebevoll, einfühlsam und hilfsbereit. Derweilen bekommen Frau und Tochter unangenehmen Besuch. Ein Schlägertrupp wütet in der Wohnung, die Immobilienfirma will mit allen Mitteln das Haus entmieten. Auch vor Junis Geige machen die üblen Biker-Typen mit schwarzen Sturmhauben nicht halt. Als Mark nach Hause kommt und das sieht, ist für ihn klar: Nicht mit ihm. Der Ex-Boxer sucht Kontakt zu seinen alten Freunden um Boxclub- und Bordellbetreiber Jakob (Thomas Thieme) und verstrickt sich so nach und nach im kleinkriminellen Milieu. Um seiner Tochter die Geige zu ersetzen, steigt er wieder in den Ring, dann brennen die Motorräder der Schläger und bald steht er dem ersten Typen, der seine Familie überfallen hat, gegenüber; blutig der Ausgang.
Tempel, der Mann, der der Produktion auch den Titel gibt, wird zum Kämpfer für Gerechtigkeit, zum Großstadt-Robin-Hood, furchtlos gegenüber den Bösen, liebevoll im Umgang mit den Guten. Innerlich ist er zerrissen, die äußeren Umstände zwingen ihn, sich wieder seiner alten Welt, die er eigentlich hinter sich gelassen hat, zuzuwenden. Ähnlich wie Lehmann in „Morgen hör ich auf“ ist auch „Tempel“ gezwungen, ein Doppelleben zu führen – hier Familie und Job, da der Boxpalast und die Unterwelt. Je mehr er für seine Frau kämpft, umso mehr entfernt er sich von ihr. Sie sucht Trost bei dem jungen Türken Mehmet, der Zeit und Interesse an der „Prinzessin“ hat. Und Tochter Juni ist schwanger.
Ken Duken über Tempel: „Von außen betrachtet fragt man sich erst: Warum reagiert Mark so extrem? Der Verlauf der Geschichte macht sein Handeln jedoch für die Zuschauer glaubwürdig. Genau das hat mich auch an der Rolle gereizt.“
Berlin ist der passende Ort für diese Zwei-Welten-Geschichte
Der Kampf um bezahlbaren Wohnraum, der Verdrängungswettbewerb in den Stadtteilen, die Vertreibung erst der sozial Schwachen und dann auch der Mittelschicht aus den zentral gelegenen Vierteln der Stadt – das erzählt Conni Lubek anhand der Hauptstadt. Es geht um den Verlust von Heimat, um die Erhaltung von Werten, um das Zurechtfinden in einer immer heftiger sich ändernden globalisierten Welt, um Menschen, die da nicht mehr mitkommen, um Menschen, die daraus Profit ziehen wollen, um Recht und Unrecht – ja, auch das begeht Mark, aber man ertappt sich, dass man dies anders bewertet als bei anderen Figuren. Regisseur Philipp Leinemann („Wir waren Könige“) hat die Geschichte atmosphärisch dicht und visuell sehr ansprechend umgesetzt. Er sucht nicht die großen Bilder, er zeigt Menschen, die unter diesem Prozess leiden. Nicht nur Familien wie die Tempels, sondern auch die Unterwelt um Kiezgröße Jakob, dessen Geschäfte unter dem Wandel leiden. Als Kiezpate Milan (Aleksandar Jovanovic) ihn unter Druck setzt und Darwin zitiert: „Nur wer sich der Umwelt anpasst, überlebt“ – da kontert Jakob laut polternd: „Darwin, Darwin, was versteht denn der vom Drogengeschäft, der Darwin kann mich am Arsch lecken“. Eine von vielen Dialogen: rau, prägnant, lebendig. Die Bilder passen dazu und die Motive sind sehr milieugerecht ausgewählt. Überwiegend mit Handkameras gedreht, ist man dabei, wenn Mark Tempel in den Ring steigt, alte Menschen pflegt und gegen Immobilienhaie kämpft.
30 Minuten hat eine Folge: kurz, aber gut! Trotz der enormen Verdichtung nimmt sich jede Episode – und das ist eine enorme Stärke – auch immer wieder Zeit für ganz ruhige Momente und weiche Übergänge. Wenn Juni von ihrem Vater eine neue Geige bekommt, sie diese freudestrahlend zwischen Schulter und Kinn setzt und zu spielen beginnt, geht zu den ersten Klängen das Bild über auf Mark, der im Boxpalast mühsam einen Sack schleppt. Dann sieht man seine Frau zu Hause bei der Anprobe von Dessous, dann folgt Adrian, der in der Halle Blut aufwischt, schließlich die alte kranke Frau Lada in ihrem Bett: Die Bilder schweben geradezu zwischen den Welten hin und her, die Musik verbindet sie.
Radikaler, härter, schneller & jünger erzählt es sich bei ZDFneo
Ken Duken, der gerne bei trendgebenden Projekten mitwirkt, man erinnere sich nur an die presigekrönte TNT-Serie „Add a Friend“, gibt den Mark Tempel mit kurzgeschorenem Haar und Vollbart. Keiner haucht seine Sätze so schön wie er, das ist längst ein Markenzeichen des gefragten Mimen geworden. Aber diese Figur des Mark ist auch enorm physisch, Duken setzt seinen ganzen Körper ein – weich als Altenpfleger, hart als Boxer. Stark auch Thomas Thieme. Der spielt den um seine Existenz kämpfenden Kiezkönig Jakob mit Herz und Schnauze. Kraftvoll, mit voller Stimme und einer Präsenz, wie man es von ihm kennt. Und da ist auch noch Antje Traue (ja, die aus „Weinberg“ & „Mordkommission Berlin 1“) als Eva. Sie gibt die Femme fatale, zu Hause in der Welt des Bordells, frühere Geliebte Tempels, die auf ein Love-Comeback hofft. Ihr erster Auftritt, in Zeitlupe gedreht, ist ein echter Augenschmaus.
„Tempel“ ist keine ZDF-Serie, sondern richtet sich an die ZDF-neo-Zielgruppe (wird deshalb ihre Zuschauer vor allem auch im Netz finden). So muss man keine Zugeständnisse an das große Publikum machen. Man kann radikaler erzählen, ist visuell freier (die Serie ist übrigens in Cinemascope gedreht) und in der Optik auch ein Stück schmutziger, beispielsweise durch den Einsatz von Filtern in der Nachbearbeitung. Und „Tempel“ ist keine Kopie eines bekannten, erfolgreichen Formats, die Serie hat einen eigenen Stil und einen ganz eigenen Rhythmus. Die Story ist verdichtet, nicht alles wird auserzählt, es gibt Nebenstränge, aber man verzettelt sich nicht. Und die Serie ist liebevoll und intelligent ausgestattet (Szenenbild: Petra Albert). Ein früheres Generatorenhaus bildet die Kulisse für den Boxpalast, über dem ist das Bordell. Alles wirkt glaubwürdig, dazu tragen viele kleine Details bei, die diese Welt nicht – wie in manchen Filmen – in schönem Licht erscheinen lassen, sondern so dreckig und manchmal auch künstlich wie sie ist. Es lohnt sich also, wenn man sich etwas traut.