Ob Zufall oder nicht: Die Premiere von „Vier Leben“ eine Woche vor den Bundestagswahlen kommt wie gerufen. Denn im Wahlkampf fällt das Stichwort Afghanistan nur noch in Verbindung mit Anschlägen, illegaler Migration und der Frage, warum so wenige Menschen abgeschoben werden können. Der „Tatort“ aus Berlin erinnert dagegen an eine andere, mittlerweile gerne verdrängte Realität: Deutschland hatte zahlreiche afghanische Ortskräfte, die für die Bundeswehr oder andere Organisationen gearbeitet hatten, bei der Machtübernahme durch die Taliban im Sommer 2021 im Stich gelassen. „Deutschland erwies sich als nicht ausreichend vorbereitet auf den Schutz der im Land zurückgebliebenen Ortskräfte und ihren Angehörigen“, heißt es auch im Ende Januar 2025 veröffentlichten Abschlussbericht der Bundestags-Enquete-Kommission „Lehren aus Afghanistan für das künftige vernetzte Engagement Deutschlands“.
Foto: rbb / Gordon Muehle
Drehbuchautor Thomas André Szabó entwickelte vor dem realen politischen Hintergrund das fiktive Szenario eines Politthrillers, der an einem einzigen Tag mitten in Berlin spielt. Von Beginn an setzt Regisseur Mark Monheim auf klassische Stilmittel des Genres wie die bildschirmfüllend eingeblendete Uhrzeit. Es handelt sich überdies um einen besonderen Tag, denn Medien-O-Töne kündigen den Besuch von King Charles an. Von den Sicherheitsvorkehrungen sieht man zwar nichts, aber dass die Behörden in erhöhter Alarmbereitschaft sein dürften, liegt auf der Hand. Und dann wird am frühen Morgen der ehemalige Bundestagsabgeordnete Jürgen Weghorst (Philipp Lind) auf dem Platz vor dem Bahnhof Friedrichstraße erschossen. Kommissar Robert Karow (Mark Waschke) und seine Kollegin Susanne Bonard (Corinna Harfouch) verteilen sich bei der Suche nach dem Scharfschützen auf zwei Gebäude. Während Bonard nur von einer Taube erschreckt wird, berührt Karow einen Stolperdraht und löst damit eine Rauchbombe aus. Hier ist offenbar ein Profi am Werk. Das Publikum ist der Polizei außerdem einen Schritt voraus, denn es sieht, wie der maskierte Scharfschütze sich auf einem Baugerüst auf seinen nächsten Anschlag vorbereitet.
Streckenweise flacht die Spannung aufgrund einer Fülle an Informationen und dialoglastiger Passagen etwas ab, aber das Zusammenspiel von Harfouch und Waschke bleibt jederzeit sehenswert und zumeist frei von typischer Ermittler-Routine. Zwischen dem immer noch neuen Berliner Duo – „Vier Leben“ ist ihr dritter gemeinsamer Fall – hat sich trotz unterschiedlicher Temperamente ein respektvolles Miteinander entwickelt. Bonard und Karow sind erfahrene Ermittler auf Augenhöhe, ohne dass hier Privates eine Rolle spielen würde. Dazu bliebe auch keine Zeit, die Figuren sind in diesem tempo- und handlungsreichen Fall Getriebene. Karow wirkt emotionaler und dünnhäutiger. Dass er in diesem Fall häufig zu spät kommt, setzt ihm sichtlich zu. Bonard ist der überlegtere, ausgleichende Typ. Wenn sie doch mal den Kollegen Malik Aslan (Tan Ҫağlar) gereizt anfährt, entschuldigt sie sich sofort. Mit der Top-Besetzung Harfouch/Waschke hat der Berliner „Tatort“ eines der zurzeit interessantesten Teams zu bieten. Nach der vorzüglichen Folge „Am Tag der wandernden Seelen“ kann auch „Vier Leben“ die hohe Qualität halten, jedenfalls was die Spannung und den politischen Anspruch betrifft.
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Sozialdemokrat Weghorst war über eine Korruptions-Affäre gestolpert und arbeitete zuletzt als Lobbyist für einen Lebensmittel-Verband. Der Lobbyist war aus PR-Zwecken mit einer vierköpfigen Delegation nach Kabul gereist und in das Chaos während der Machtübernahme der Taliban geraten. Aufgrund seiner guten Kontakte zum Verteidigungsministerium wurde die Delegation mit einem Flugzeug ausgeflogen, das eigentlich hunderte Ortskräfte aus Afghanistan retten sollte. Nachdem am Mittag ein zweites Mitglied aus der Delegation erschossen wird, spitzt sich die Lage weiter zu. In Verdacht, Rache zu üben, gerät frühzeitig Soraya Barakzay (Pegah Ferydoni). Sie hatte, wie ein Video beweist, Weghorst bedroht. Barakzay ist eine ehemalige Richterin aus Afghanistan, deren beide Kinder von den Taliban getötet wurden. In Deutschland engagiert sie sich für eine Fluchthilfe-Organisation. Beinahe nüchtern und ohne Pathos, aber umso überzeugender verkörpert Pegah Ferydoni diese intelligente, ihre tiefe Verzweiflung kontrollierende Frau.
„Vier Leben“ ist nicht zuletzt dank der Kamera von Jan-Marcello Kahl ein ausgesprochen dynamischer Berlin-Thriller mit interessanten Perspektiven. Während der Charme des alten West-Berlin durch das im früheren Flughafen Tegel gedrehte Landeskriminalamt weht, blickt die Kamera häufig, sozusagen aus Scharfschützen-Perspektive, von den Dächern auf die Stadt. Der Täter stellt gewissermaßen die Herrschaftsverhältnisse auf den Kopf: Jetzt ist er oben und bestimmt über Leben und Tod. Am Ende wird es etwas wild, da wird ein einarmiger Mittäter aus dem Hut gezaubert, dessen Schicksal und Handlungsweise rätselhaft bleibt. Und der Showdown in einer Tiefgarage wirkt doch etwas konstruiert.
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