Der letzte Fall mit Lannert (Richy Müller) und Bootz (Felix Klare) lief unter dem Titel „Tatort – Lass sie gehen“, spielte in der baden-württembergischen Provinz und erntete heftige Proteste. Zu Unrecht sah sich die Landbevölkerung als kleingeistig, gottesfürchtig und weltfremd dargestellt. Der alte Streit um Wirklichkeit und künstlerische Fiktion, Sinn und Zweck von Übertreibung und Klischee. Diesen Streit wird diesmal keiner vom Zaun brechen. „Verblendung“ setzt ganz aufs Fiktionale. Mit Figuren, die, wie auf dem Spielplan aufgereiht, in die Dramaturgie eingeflochten werden, lose an echte „Typen“ erinnern, in ihren Kurzmonologen aber zu blass bleiben, um zu fesseln. Darunter ein Staatssekretär, der Polizeipräsident, ein hintertriebener Populist und ein nachdenklicher Kommissar. Im letzten Moment kann Sebastian Bootz, der für Kollege Lannert eingesprungen ist und sich nun in Geiselhaft befindet, eine Audio-Nachricht von der Geiselnahme „nach draußen“ übermitteln. Sekunden später muss auch er sein Handy abgeben.
Das Szenario von „Tatort – Verblendung“ (SWR) stammt von Kennern des Stuttgarter Duos. Katharina Adler und Rudi Gaul (auch Regie) schrieben bereits die Drehbücher zu „Videobeweis“ (2022) und „Vergebung“ (2023). Anders als bei den Vorgänger-Fällen bleibt „Verblendung“ bis auf wenige Ausnahmen auf zwei Schauplätze beschränkt. Konzentration ist angesagt. Um visuell trotzdem spannend zu erzählen, nutzt Regisseur Gaul andere Techniken. In den Telefonaten zwischen Lannert und der Geiselnehmerin oder Kollege Bootz setzt er die Gesichter der Verhandelnden per Split-Screen-Verfahren ins Bild. Spannend auch die Perspektive einer vorrückenden SEK-Einheit. Die arbeitet sich durch einen Luftschacht bis unter die Leinwand vor, kann das Geschehen im Kinosaal aber nur durch schmale Sehschlitze erahnen. Das Vordringen der Einheit ist musikalisch dynamisiert, die eigentliche Spannung vermittelt sich durch das geräuschlose Hand-in-Hand der Polizisten.
Anders die Situation im Kinosaal selbst. Ein angeschossener Geiselnehmer droht zu verbluten, seine Komplizin schreit ihre Forderungen ins Handy. Karin Urbanski (Anna Schimrigk) ist überfordert und agiert hysterisch. Sie fordert die Freilassung zweier Stammheim-Insassen und ein Eingeständnis des Innenministers über Folter und Mord im Gefängnis. Die Anspielung auf die frühe RAF-Historie mischt sich mit Hass-Tiraden auf eine Regierung, die die „Umvolkung“ Deutschlands vorantreibt. In den wilden Beschimpfungen der Geiselnehmerin mischen sich terroristische Praktiken der alten Linken mit Parolen der neuen Rechten zu einem kaum mehr nachvollziehbaren Brei. Links vermutet, rechts verortet – so ziehen Kommissar Lannert und Rechtsmediziner Vogt (Jürgen Hartmann) in einer späteren Szene kopfschüttelnd Bilanz.
Gegenüber der mit ihrer Waffe herumfuchtelnden Urbanski sitzt eine kleine Gruppe an exemplarisch ausgewählten Typen aus allen Teilen der Bevölkerung und allen Parteien des politischen Spektrums aufgereiht vor der Kinoleinwand. Verängstigt hockt man auf den Stufen, bereit, sich durch gegenseitige Anschuldigungen aus der Schusslinie zu ziehen. Die Bildgestaltung unterstricht das Theaterhafte dieser Konstellation. Im Hintergrund vervielfachen sich die Gesichter in den schwarz-weiß-Porträts eines Film-Stills. Auch inhaltlich ist „Tatort – Verblendung“ jetzt in der Theatervorstellung angekommen. Frei nach Ferdinand von Schirachs Versuchsanordnungen sollen die Anwesenden (diesmal im Visier einer Waffe) demokratisch abstimmen, wer als nächstes eine Kugel in den Kopf bekommt. Lügenpresse oder Politclown, Bullenboss oder Kommissar, immer gibt es ein nächstes Doppel, über das zu entscheiden ist. In größter Gefahr bittet Bootz den Staatssekretär mit muslimischer Herkunft, „etwas Persönliches“ zu erzählen, um die Situation und sein Leben zu retten. Was folgt, ist eine von vielen Beichten über Depressionen, Therapie und neue Stärke, vergangenes Glück und traumatisierende Wendungen des Schicksals. In der Kulisse nicken wie auf Zuschauerrängen die Mitgefangenen. Und mit jedem Wort verlässt die Spannung den Saal.
In der Einsatzzentrale des SEK versucht Lannert derweil, den wunden Punkt der Erpresserin zu finden. Wenn auch sie beichten könnte, wovon würde sie erzählen? Das muss Lannert allein herausfinden. Der Weg führt in die JVA Stammheim und zu einem Terroristen, dessen Charisma vor Jahren eine Frau wie Karin Urbanski beeindrucken konnte. Auch hier schiebt das Drehbuch ein paar Dialoge über guten und schlechten Protest ein, thematisiert Anfälligkeit für Verschwörungstheorien als eine Schwäche, die der Rechten heute Tür und Tor öffnet. Das Anliegen ist ehrenwert, fühlt sich jedoch im Handlungsverlauf wieder wie ein Fremdkörper an. Erst zum Finale dynamisiert „Verblendung“ das Geschehen spürbar. Die Ermittlungen drehen sich jetzt um verschiedene Verdachtsansätze in einem vorausgegangenen Mordfall. Ein vermeintlicher Held wird dabei zum Mörder, der keinen Ausweg mehr sieht. Eine brandgefährliche Situation und ein letztes Aufflackern von Spannung. „You can´t always get what you want“ singen die Stones am Ende des Falls. Ein Fall, der vielen Ansätzen inklusive einer kleinen feinen Polit-Intrige nachgeht, dem es aber nicht immer gelingt, das eine mit dem anderen geschmeidig zu verbinden.