Die Nordsee- (und auch die Ostsee-)Küste sind beliebte Schauplätze für Verbrechen. Gefühlt ist die Zahl der Morde in der Küstenregion in den letzten Jahren enorm gestiegen – zumindest im Fernsehen. Ob „Usedom-Krimi“, „Nord bei Nordwest“ oder „Stralsund“ an der Ostsee, „Friesland“ oder „Nord Nord Mord“ an der Nordsee, TV-Kommissare holen sich immer häufiger feuchte Füße. Auch Wotan Wilke Möhring als Tatort-Kommissar Falke ermittelt nicht zum ersten Mal am Wasser, 2013 bei seinem zweiten Einsatz hatte er bereits einen „Mord auf Langeoog“ zu lösen. Diesmal geht es zwei Inseln weiter Richtung Westen – nach Norderney (das sogar schon von „Wilsberg“ besucht wurde). Auch da geht es um Mord und Totschlag.
Foto: NDR / Christine Schroeder
Was für ein Abend für den Cop mit dem „Sympathy for the devil“-Klingelton am Handy: Erst springt eine alte Bekannte in seinen Wagen und erzählt ihm eine wilde Story um vermeintlich illegale Immobiliendeals auf Norderney, der sie auf der Spur ist. Dann will er seinem erwachsenen Sohn zum Geburtstag gratulieren, merkt aber schnell, dass er nur stört. Also ab ins Bett. Da klingelt das Handy, die investigative Journalistin Imke Leopold (Franziska Hartmann) ist dran und schildert ihm, dass sie von einem Unbekannten in ihrem Haus bedroht wird. Und schon sind Thorsten Falke (Wotan Wilke Möhring) und Julia Grosz (Franziska Weisz) auf dem Weg nach Norderney. Imke geht es gut, sie macht auf die beiden Ermittler aber einen verhuschten und verpeilten Eindruck. Hat sie sich das alles nur ausgedacht? So fahren Thorsten und Julia zu dem Makler und Anwalt, der angeblich Imkes Quelle ist und das groß angelegten Bauprojekt eingefädelt hat, das aufgrund der Zustimmung einiger Lokalpolitiker auf der Insel durchgewunken wurde. Doch der liegt tot im Keller. Und die Ermittler sind mittendrin im Inselsumpf, wo jeder jeden kennt, der Inselfunk schneller ist als die Kommissare ermitteln können und Imke wohl doch einer heißen Sache auf der Spur war. „Das ist hier wie ein Monopolyspiel, jedes freie Feld wird gekauft und die alten Norderneyer müssen weg“, sagt Imke. Falke hatte mal was mit ihr, „eine kurze wilde Affäre“ sagt er zu Kollegin Julia. Die fragt interessiert: „Was heißt wild?“. „Imke ist, hast du ja gesehen, sehr intensiv“, antwortet er vielsagend. Doch welche Rolle spielt sie in diesem Insel-Monopoly? Im Verlauf der Ermittlungen arbeitet sie mit haltlosen Anschuldigungen, verliert zunehmend den Bezug zur Realität. Und sie erweist sich als große Verführerin: Sie manipuliert nicht nur die Wahrheit, sondern sie zieht mit Charme und Charisma immer wieder andere auf ihre Seite
David Sandreuter (schrieb an der Schweizer Serie „Private Banking“) hat nach einer Idee von Arne Nolting und Jan Martin Scharf (die Macher der preisgekrönten Serien „Weinberg“ und „Club der roten Bänder“) den „Tatort – Tödliche Flut“ geschrieben, der durch eine starke Figurenzeichnung besticht. Im Mittelpunkt steht Imke, eine durch und durch intensive Figur. Sie war im Kongo, in Afghanistan, ist neugierig, kämpferisch, aber auch berechnend. Sie weiß, was sie will, doch bei ihr verschwimmen die Grenzen zwischen Wahrheit und Fiktion, und sie hat schizoide Züge. Franziska Hartmann, kürzlich als obdachlose, alleinerziehende Frau in „Sterne über uns“ sehr überzeugend, spielt diese gespaltene, verlorene und geheimnisvolle Imke kraftvoll und nuanciert. Aber auch die Nebenfiguren – ob Bürgermeister, Großinvestorin, Bauunternehmer oder Dorfpolizist – sind fein gezeichnet & stimmig besetzt.
Foto: NDR / Christine Schroeder
Regisseur Lars Henning („Kaltfront“ / „Tatort – Der Turm“) erzeugt eine Atmosphäre der Beklommenheit auf der Insel, spielt mit der Landschaft, setzt sie dramaturgisch geschickt ein – mal für Action, mal für leicht augenzwinkernde (Küchen-)Philosophische Gedanken. Wenn Imke und Falke am Strand stehen und sie sagt: „Ist eigentlich nur viel Wasser“, ergänzt er: „… und ein bisschen Sand.“ Henning arbeitet mit klassischen Spannungselementen. Am Haus des Opfers steht die Tür offen, die Kommissare durchstreifen mit gezückter Pistole Raum für Raum, bis sie die Leiche finden. Unterlegt ist das mit den Klängen der NDR-Radio-Philharmonie (unter Dirigent Christian Schumann). Es fällt auf, dass mehr und mehr in deutschen Krimis auf die Kraft und Wucht von Orchestermusik gesetzt wird, begonnen hat das beim preisgekrönten Hessen-„Tatort: Im Schmerz geboren“. Eine weitere Szene in Imkes Haus arbeitet nach dem selben Prinzip. Und auch einem Verdächtigen, der sich in einer Werkstatt verschanzt, nähert sich Falke bewaffnet. Action-Szenen passen zu diesem Typ mit Lederjacke und Dreitagebart. Schimanski lässt grüßen! Doch Falke hat auch eine zarte Seite, die er in „Tödliche Flut“ erneut ausspielen darf. Es geht um die Begegnung mit einer Verflossenen, wobei hier weitaus interessanter ist zu beobachten, wie Kollegin Julia darauf reagiert. Ihre Blicke verraten, da ist noch vieles möglich zwischen Frau Grosz und Herrn Falke.
Schön, dass sich der Krimi für diese Art von Zwischentönen Zeit nimmt, denn die Story um mysteriöse Eigentumsspekulanten, die die ganze Insel aufkaufen, Wohnblocks in die Natur setzen und Politiker als Marionetten benutzen, ist zwar ansprechend erzählt, aber nicht gerade innovativ. Der „Tatort – Tödliche Flut“ lebt von den Typen, der Konstellation Falke zwischen zwei Frauen und dem gelungenen Spiel mit den landschaftlichen Gegebenheiten. Beim hollywoodreifen Showdown holt sich Falke dann – soviel darf schon mal verraten werden – nasse Füße und steht vor der Frage: „Watt nun, Herr Falke?“