Tatort – Stille Nacht

Bauer, Wolfram, Sellien, Agapito, Baumgärtl, Zimmermann, Sebastian Ko. Versöhnungsfest mit Rätselbeilage

Foto: RB / Claudia Konerding
Foto Martina Kalweit

Im Kapitänshaus brennen die Kerzen. Friede, Freude, Karaoke. Am Morgen nach Weihnachten mischt sich blinkendes Blau ins Lichtermeer. Der Kapitän ist tot und alle im Haus sind verdächtig. Die Patchworkfamilie des Opfers beschert der Kripo einen bunten Flor an Motiven. Die Bremer Ermittlerinnen – etwas grimmig, gerne grummelnd – tragen ein Mosaik aus Hinweisen zusammen. Vier mögliche Tathergänge fließen in die Erzählung ein. Immer will ein Teil nicht passen. Als Krimi ein klassischer Whodunit nimmt „Tatort – Stille Nacht“ (Bremedia) das Konstrukt der modernen Familie wie eine Matroschka-Puppe auseinander. Eher behutsam als eisig. Ist schließlich ein Krimi zum Versöhnungsfest. Und irgendwie sind wir doch alle Opfer.

Liv Moormann (Jasna Fritzi Bauer) und Linda Selb (Luise Wolfram) haben es nicht so mit großen Gefühlen. Frohe Weihnacht und herzliches Beileid wünschen sie in einem Atemzug. Kapitän Hendrik Wilkens (Matthias Freihof) ging früher schlafen und starb durch einen Schuss. Seine erwachsenen Kinder (Pia Barucki, Robert Höller, Rana Farahani), Ehemann Bjarne (Rainer Sellien) und Andy (Jernih Agapito), ein Seemann von den Philippinen, haben nichts gehört. Jetzt sitzen alle entsetzt auf dem Sofa. Wenn die Kamera an die geschockten Gesichter der Trauernden heranfährt, wendet sich Selb in der nächsten Einstellung angewidert ab. Begeistert dagegen ist sie über die 360-Grad-Kamera, die ihr bewegbare Bilder vom allround-vermessenen Tatort auf den PC zaubert. Das ist die Distanz, die sie braucht. Tatsächlich gefällt die Spielerei in SIMS-Optik nicht nur ihr, sondern auch Regisseur Sebastian Ko. Im Wechselspiel von PC-Bild und Aufnahmen vom Tatort lässt er Selb die Puzzleteile so zusammensetzen, wie sie vor der Tat im Raum platziert waren. Eine von ihr wieder zusammengesetzte Blutspur beweist: Das Fenster wurde erst nach Wilkens Tod eingeschlagen. Einbruch und Raubmord können ausgeschlossen werden, einer der Trauernden hat manipuliert. Der Einblick in die kriminalistische Detailarbeit bereichert den Fall.

Tatort – Stille NachtFoto: RB / Claudia Konerding
Liv Moormann (Jasna Fritzi Bauer) zweifelt, ob das wirklich ein gewöhnlicher Einbruch war. Die Kommissarin dürfte recht haben.

In vier dramaturgischen Schleifen widmet sich „Tatort – Stille Nacht“ nun möglichen Tathergängen. Brav arbeiten die Ermittlerinnen den Reigen der Verdächtigen ab. Einbrecher ausgeschlossen, spielen sie eine Beziehungstat aus Eifersucht, einen Erpressungsversuch mit Schuss aus Versehen und schließlich den wirklichen Tatverlauf in fiktiven Rückblenden durch. Die letzte Wendung heben sich die Drehbuchautorinnen Daniela Baumgärtl und Kim Zimmermann („Skylines“, 2018/19) bis kurz vor Schluss auf. Da und dort bauen sie Erklär-Dialoge für unaufmerksame Zuschauer ein. Das unterhält als klassischer Whodunit auf niedriger Erregungstemperatur. Das Gros der Handlung wie alle Rückblenden auf mögliche Tatverläufe spielen sich im schmucken Haus am Deich ab. Ein Schauplatz als Konzession an das Adventspublikum. Leider wirkt das Interieur etwas steril. Bis auf den Raum, in dem der Mord geschah, scheinen die Sets dem Katalog eines Weihnachtsdeko-Herstellers entnommen. Verzweiflung und Chaos in den Köpfen der Hinterbliebenen spiegeln sich nirgends wider.

Wo der Dreh nach draußen geht, folgt die Kamera den Kommissarinnen in unterschiedliche Milieus. Dabei spielen die horizontal inzwischen durch sechs Fälle mitlaufenden Erzählungen über das private Umfeld der Kommissarinnen nicht die Rolle wie das in Sebastian Kos letzter Bremer Regiearbeit „Donuts“ (2023) der Fall war. Die aus prekären Verhältnissen stammende Moormann beißt sich in der Nacht zwischen den Weihnachtsfeiertagen tapfer durch ihre Einsamkeit. Den Knastbesuch bei ihrer jüngeren Halbschwester verkneift sie sich im letzten Moment. Wut, Trauer, Schuldgefühle: Augenblicke dieser Art gönnt die Reihe Schauspielerin Jasna Fritzi Bauer immer noch zu selten. Selb, wie wir seit „Tatort – Angst im Dunkeln“ (2024) wissen, aus dem feinen Bremer Stadtteil Schwachhausen stammend, genießt derweil das Weihnachtsfest unter Matrosen, probiert sich aus und frönt ihrer Freude am Derben. Wieder im Kommissariat vereint, treffen konträre Stimmungen aufeinander. Bauer und Wolfram neigen hier zum Over-Acting, aber, anders als viele Kollegen, stecken Moormann und Selb Unstimmigkeiten auch schnell wieder weg. Es macht sie nur härter, das passt zu ihnen.

Tatort – Stille NachtFoto: RB / Claudia Konerding
Christmas very cool. Linda Selb (Luise Wolfram) ist eigentlich für Befragungen in der Seemannsmission. Miquel Francisco Bata

Als Neuzugang tritt Helen Schneider alias Rechtsmedizinerin Edda Bingley auf den Plan. Vom Typ her wirkt die ehemalige Rock’n-Roll-Gypsy mit langjähriger Bühnenerfahrung wie eine geschmeidige Ergänzung zum Bremer Duo. Schwer vorstellbar, dass sich die Drei in Zukunft als Trio beharken. Aber das ist gut so. Team-Streitereien als Nebenschauplatz kennen „Tatort“-Zuschauer zur Genüge. Ein guter Fall macht sie verzichtbar. Gedreht wurden die Szenen mit Helen Schneider in der denkmalgeschützten „Alten Pathologie“ im Bremer Hulsberg-Viertel. Auf den ersten Blick sichtbar wird Bremen allerdings erst gegen Ende des Falls, wenn ein Verdächtiger seine Flucht durch die Gassen des Ostertorviertels antritt. Zum Finale kehrt das Weihnachtspuzzle dann zu seiner Bestimmung zurück. Nick Cave singt „Into my arms“, der Schnee rieselt leise, zwei Opfer verzeihen einander. Die Kommissarinnen tragen Wollmützen und beobachten die Versöhnung aus sicherer Entfernung. Jetzt überzeugend weich zu werden gehörte sicher zu den heikelsten Aufgaben der beiden Hauptdarstellerinnen. Und als wäre ihm das selbst zu viel des Guten, lässt Regisseur Ko den Schnee noch einmal in Regen übergehen. Letzte Rückblende und Abspann.

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Reihe

RB

Mit Jasna Fritzi Bauer, Luise Wolfram, Rainer Sellien, Jernih Agapito, Helen Schneider, Matthias Freihof, Pia Barucki

Kamera: Christoph Krauss

Licht: Rainer Trautmann

Szenenbild: Jost Brand-Hübner

Schnitt: Dora Vajda

Musik: Jessica de Rooji

Redaktion: Lina Kokaly (Radio Bremen), Birgit Titze (Degeto)

Produktionsfirma: Bremedia

Produktion: Katharina Wagner

Drehbuch: Daniela Baumgärtl, Kim Zimmermann

Regie: Sebastian Ko

Quote: 8,36 Mio. Zuschauer (29,3% MA)

EA: 08.12.2024 20:15 Uhr | ARD

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