Wenn es darum geht, eine kleine „Tatort“-Revolte anzuzetteln, ist Ulrich Tukur ein prominenter und engagierter Kombatant. Seine Bereitschaft, den Kommissar zu geben, verknüpfte er mit der Absicht, Genregrenzen zu verletzten und keine Dutzendware abliefern zu wollen. Christian Jeltsch, Autor des Tukur-Debüts, nahm ihn beim Wort, dichtete der Figur Felix Murot einen Tumor namens Lilly ins Hirn und ließ den LKA-Beamten mit besonderen Schmerzen und besonderen Wahrnehmungsfähigkeiten ermitteln. Auf Dauer ließ sich Lilly aber nicht als Nebenrolle bespielen, schon im zweiten HR-Tatort „Das Dorf“ machte sie seinem Träger ein solches Ungemach, dass offensichtlich wurde: Entweder geht danach Tukur, der sich gegenüber dem HR nur auf zwei Folgen hatte festlegen lassen. Oder die raumgreifende Lilly, die ohnehin nur eine auf Papier notierte Erfindung war, muss weichen.
Mit Beginn von „Schwindelfrei“ ist klar: Tukur macht weiter, Lilly musste gehen beziehungsweise ist aus dem Kopf von Murot herausoperiert worden. Die aktuelle Folge startet mit dieser guten Nachricht: Murot ist geheilt! Dass der Nachname des Krimihelden ein Anagramm aus den Worten „Tumor“ ist, bleibt nach der Kopföffnung als Appendix übrig so wie seine Assistentin Magda, die auf den Namen „Wächter“ hört, nun nicht mehr über den verrückten Kollegen wachen muss. Die bislang überdeutlich unterforderte Barbara Philipp freut sich in Interviews zurecht, nicht mehr nur dem solo ermittelnden Murot am Telefon Faxnachrichten vorzulesen, sondern künftig eine aktivere Rolle im HR-„Tatort“ spielen zu können. Damit ist der Ausnahme-Tatort freilich schon auf halbem Weg zum Ermittlerteam-Krimi und also um ein gutes Stück in Richtung Mainstream vorangekommen.
Justus von Dohnányi, der bereits in „Das Dorf“ Regie führte, hat diesmal auch das Buch geschrieben. Dass der neue Fall in einem heruntergewirtschafteten Zirkus spielen würde, war einmal mehr eine Idee von Ulrich Tukur, der gerne und etwas formelhaft betont, wie viel von seinen Gedanken in der Murot-Figur steckt. Jetzt singt der auch noch. Und spielt Klavier. Die Erklärung für dieses Zwischenspiel, bei dem Tukur von „seinen“ Rhythmus-Boys begleitet wird, ist notdürftig: Im Zirkus hat sich der junge Pianist den Arm gebrochen. Murot, der sich mit der Eintrittskarte einen Kindheitstraum erfüllen wollte, springt für den armen Tropf ein, weil er inzwischen ein Verbrechen unter der Zirkuskuppel vermutet. Eine Zuschauerin hatte mit dem Finger auf einen Artisten gezeigt, etwas wirr „Das ist doch Pascha, lasst ihn nicht wieder entkommen“ gerufen und war dann wie vom Erdboden verschlungen.
Justus von Dohnányi („Bis zum Ellenbogen“) inszeniert seinen eigenen Stoff mit dem Stilwillen, mit dem André Heller und Bernhard Paul 1975 ihren „Circus Roncalli“ erfanden: „Als die größte Poesie des Universums“. Das Personal aus dem fiktiven Zirkus Raxxon ist ein ansehnliches Panoptikum: Uwe Bohm spielt den eifersüchtigen Messerwerfer, Jevgenij Sitochin ist ein maulfauler Bauchredner, Zazie de Paris eine Pudeldompteuse, Josef Ostendorf den schmierigen Zirkusdirektor mit den etwas zu ausschweifenden Reden und Gesten. Die Kulisse ist unübersehbar eine, hinter der sich der sozialkritische Sonntagskrimi lustvoll einen Spaß machen will. Im Arbeitslicht betrachtet bereitet die Inszenierung Ulrich Tukur doch nur die Bühne, sich und dem Publikum den „etwas anderen“ Kommissars vorzugaukeln. Im Kern ist die Sache wie immer: Eine Frau ist erstochen, ein Tatzeuge verschwunden. Der Kommissar ist zufällig vor Ort. Und weil der Täter im engsten Umfeld der Tat vermutet werden muss, schlüpft der Beamte vorübergehend und ohne realistischen Blick für die Gefahr in eine zweite Identität. Ein origineller Drahtseilakt sieht anders aus.
Die traumschönen Bilder von Carl-Friedrich Koschnik, die mal blaue Pudel, mal von der Decke schwebende Jungfern zeigen, ähneln dem Hauptdarsteller: sie sind eine Spur zu amibioniert, um wirklich beiläufig zu wirken. Fast scheint es, dass dieser recht gefällige Film „Schwindelfrei“ bei allem Zirkuszauber nur die schlichte Funktion einer Pausennummer zu erfüllen hat. Für den nächsten großen Coup „Butterfly“, der in diesem Spätherbst von Florian Schwarz in Frankfurt gedreht wird, haben HR-Redakteur Jörg Himstedt und Hauptdarsteller Ulrich Tukur bereits ambitionierte Ziele angekündigt: „Butterfly“ wird eine Reise in Murots Vergangenheit werden, der Film soll mit 47 Untoten aufwarten, wird unter anderem auf dem Frankfurter Zentralfriedhof spielen und natürlich ein paar Genrekonventionen verletzen.