„Mit Gold“, das gab es damals noch beim Grimme-Preis: Hajo Gies sowie Götz George und Eberhard Feik wurde 1989 die höchste Ehrung zuteil, die es für deutsche Fernseh-Produktionen gibt; es war überhaupt der erste Grimme-Preis für einen „Tatort“. Aus heutiger Sicht ist die Entscheidung überraschend, denn „Moltke“ war sicher nicht die stärkste Episode aus Duisburg. Der Krimi ist über weite Strecken spannungsarm, die Handlung zum Teil mutwillig verworren. Zumindest die Vorgeschichte ist überschaubar: 1978 hat eine fünfköpfige Bande einen Supermarkt überfallen und über eine Million Mark erbeutet. Einer der Ganoven ist damals beim Schusswechsel mit dem Wachpersonal verletzt worden, ein Komplize hat ihn daraufhin kaltblütig ermordet; der Bruder des Toten, in seiner Trauer unfähig zu fliehen, konnte noch am Tatort festgenommen werden. Weil dieser Pawlak (Kramar) in all den Jahren nicht verraten wollte, wer die Täter waren, bekam der Mann in Anlehnung an einen als „Der große Schweiger“ bekannten preußischen Generalfeldmarschall den Spitznamen Moltke. Kurz vor Weihnachten ist Pawlak wieder auf freiem Fuß, und Schimanski ahnt: Der Pole will seinen Bruder rächen und die drei Mittäter zur Strecke bringen. Den ersten finden die Ermittler gefesselt und geknebelt im Kofferraum, aber da es sich um einen stadtbekannten Immobilienhändler (Jürgen Heinrich) handelt, müssen sie den Kerl wieder laufen lassen. Ein zweiter liegt später tot im Pool seines Nachtclubs. Aber wer ist der dritte?
Das Autorentrio Axel Götz und Thomas Wesskamp sowie der spätere „Tatort-aus-Münster“-Miterfinder Jan Hinter hat damals keinen Grimme-Preis bekommen, was einerseits ungewöhnlich, andererseits aber auch ein deutliches Zeichen ist: Die Qualität von „Moltke“ beruhte nach Ansicht der Jury offenbar nicht in erster Linie auf dem Drehbuch. Da ist was dran, denn zwischendurch verliert der Film seine Geschichte etwas aus den Augen. Aber auch die Inszenierung ist längst nicht so fesselnd, wie man das von den anderen Duisburg-Krimis von Hajo Gies gewohnt war. Der Aufwand ist ebenfalls eine Nummer kleiner. Es gibt viele Innenaufnahmen und Dialoge, die nicht immer der Wahrheitsfindung dienen, um es vorsichtig zu formulieren. Einige Szenen wirken gar wie erfüllte Vorgaben: weil sich Thanner und Schimanski nun mal immer wie ein altes Ehepaar streiten, weil Schimanski ständig suspendiert wird, und weil Lokalkolorit (verkörpert durch die unvermeidliche Ruhrpottikone Tana Schanzara) auch irgendwie dazu gehört. Aber dann beginnt das dritte Drittel, und nun gibt Gies Gas, als wolle er nachholen, was er den Schimanski-Fans in den ersten sechzig Minuten vorenthalten hat; jetzt endlich inszeniert er Götz George auch als Star. Erging sich der Film bis dahin unter anderem in einer viel zu langen Kneipenszene mit anschließender Verbrüderung des Kommissars mit dem Polen, gerät Schimanski nun quasi ununterbrochen in Lebensgefahr: Erst sperrt ihn jemand in eine kochend heiße Sauna, dann muss er sich gegen hungrige Raubkatzen wehren. Am Ende kommt es zu einer Schießerei, bei der die Schüsse wie im Italo-Western krachen, und schließlich zum Showdown, in dessen Verlauf Pawlak und Schimanski endlich den ominösen dritten Mann stellen.
Für den in jenen Jahren stets staatstragenden Grimme-Preis war laut Jury-Begründung unter anderem die Erinnerung „an die Aussiedler und ‚Asylanten’“ entscheidend. In der Geschichte spielt dieses Element zwar nur eine untergeordnete Rolle, aber es ist in der Tat sehr harmonisch in die Handlung integriert; am Schluss wird Schimanski gar zum „Ehren-Polen“ ernannt.
Axel Götz, Jan Hinter und Thomas Westkamp haben Hajo Gies eine Vorlage geliefert, in der ganz nebenbei an die Aussiedler und „Asylanten“ erinnert wird, die vor 100 Jahren ins Ruhrgebiet kamen und heute als Schimanskis dort leben. Dennoch keine Moralin-Geschichte, sondern ein Krimi. Nach mehr als zehn Jahren „Schimanski“ ist die Folge „Moltke“ ein Beweis dafür, dass diese Reihe nicht ausgedient hat – vorausgesetzt, man investiert in sie so viel Phantasie, so viel Anstrengung um eine gute Story, um schönes Schauspiel, um liebevoll-genaue Regie. Fernseh-Unterhaltung als Fernseh-Kultur. (aus der Preis-Begründung)
Aus heutiger Sicht sind Hajo Gies’ erster „Tatort“ („Duisburg-Ruhrort“, 1981) oder „Der Tausch“ (1986) von Ilse Hofmann die besseren Filme. Dass dennoch auch „Moltke“, der neunzehnte Fall von Schimanski und Thanner, zu den guten Krimis mit George und Feik gehört, liegt neben dem fulminanten Schlussakt vor allem an vielen originellen Ideen. Dazu zählt unter anderem die wohl ungewöhnlichste Verfolgungsjagd der „Tatort“-Geschichte: Weil er zu Fuß zu langsam ist, um mit einem Moped Schritt zu halten, entert Schimanski eine Straßenbahn und herrscht die Tramführerin an, endlich weiterzufahren („Gib Gas, Mann“). Andere Gags wirken zwar wie bestellt, sind aber trotzdem witzig (Thanner registriert verblüfft, dass die Kollegen von der Drogenfahndung „Leise rieselt der Schnee“ singen). Amüsant ist auch der Einfall, als dritten Verdächtigen einen „blonden Schönling“ anzubieten, der immer wieder mal am Rande auftaucht; das entsprechende Phantombild zeigt eindeutig Dieter Bohlen. Er hat nicht nur die Filmmusik geschrieben, sondern auch ein Lied beigesteuert (eingespielt vom Modern-Talking-Nachfolgeprojekt Blue System). Der Song klingt zwar verdächtig wie das ebenfalls von Bohlen komponierte „Midnight Lady“ von Chris Norman aus „Der Tausch“, erfüllt aber seinen Zweck als melancholisches Leitmotiv. Davon abgesehen erinnert Bohlens elektronische Musik gerade gegen Ende auffällig an Jan Hammers Kompositionen zur damals höchst populären US-Serie „Miami Vice“. (Text-Stand: 29.8.2017)